Oldschool – die alte Schule

„Das ist doch bescheuert!“ sagt er leicht genervt zu seinem Gesprächspartner „Es sind nur noch drei Wochen hin. Da wird man doch wohl zu- oder absagen können! Warum halten sich die Leute heutzutage alles offen, in der Hoffnung, es könnte noch was besseres kommen?“

Wir stehen in dem kleinen Geschäft und haben uns gerade einen „Eierlikör to go“ gegönnt. So richtig im Schokowaffelbecher. Oldschool.

Wir lauschen dem Austausch unfreiwillig und doch eingeladen – wie das eben so ist, in so kleinen Geschäften: Da wird aus einem Zwiegespäch auch gern mal eine Konversation zwischen völlig fremden Menschen. So richtig mit Augenkontakt. Oldschool.

Ursprünglich ging es um eine Einladung zu einer Silvesterfeier, zu deren Zusage sich jemand noch bedeckt hielt. Eben weil er offensichtlich hoffte, noch eine spektakulärere Einladung zu bekommen.

Oft habe ich das Gefühl, das ganze Leben ist eine Silvesterfeier. Wir werden überhäuft mit Optionen und Einladungen. Und bei all´ dem Überangebot haben wir verlernt, uns zu entscheiden. Und damit wird die große Welt der Möglichkeiten eigentlich wieder ganz klein, weil wir uns nie vollständig zu etwas bekennen.

Als würden wir vor einem Berg an Geschenken stehen, in die wir niemals alle schauen können. Bei vielen streichen wir über das Geschenkband, manche öffnen wir, die wenigsten nehmen wir wirklich wahr. Oft genug nehmen wir den Inhalt, schauen ihn kurz an, benutzen ihn vielleicht einmal und legen ihn dann weg. Wir wollen ja noch wissen, ob in einem anderen Päckchen noch etwas besseres drin ist. Wie unglaublich verständlich. Wie unglaublich schade.

Ich erinnere mich an meine kindlichen Weihnachten. Es gab nicht viel. Das was es gab hatten wir uns jedoch von Herzen gewünscht. Wir haben nicht nur den ganzen Abend damit gespielt, sondern auch die Tage darauf. Und die Wochen. Und Monate. Jahre manchmal. Ging es kaputt, waren wir untröstlich. Wurde es repariert, von Herzen dankbar.

Ich habe noch heute eine Schatulle, in die eine Spieluhr integriert ist. Öffnet man den Deckel, spielt Beethovens Mondscheinsonate und eine kleine Ballerina dreht sich unermüdlich. Oldschool, oder sagen wir: klassisch. Ich habe meine größten Schätze darin aufbewahrt. Schätze, die man als Kind eben so hat: selbst gesammelte Muscheln, den Ring aus dem Kaugummiautomaten, der Zettel aus dem Unterricht auf dem stand: „Willst du mit mir gehen?“. Damals habe ich kein „Vielleicht“ angekreuzt. Ihr?

Mit der Zeit wurde mir der Inhalt egal, und manchmal war mir die Optik zu unmodern. Aber ich habe sie nie weggeschmissen. Liebevoll streiche ich nun hin und wieder darüber und lächle in mich hinein. Weil sie mir etwas bedeutet. Weil ich nur diese eine habe; nie eine andere wollte. Warum auch?

Manchmal vermisse ich diese Verbindlichkeit der Kindheit, auch wenn ich die Möglichkeiten der Gegenwart schätze.
„Wenn es dunkel wird bist du zu Hause!“ Keine Diskussion, keine WhatsApp an Mutti: komme später. Ein Commitment, das man eingehalten hat. Auch, um dem anderen keine Sorge zu bereiten. Wenn es dunkel wurde, war ich zu Hause. (Was habe ich die Sommer geliebt!)

Und heute? Viel zu viele halten sich viel zu oft alle Optionen offen. Bei Verabredungen, bei Käufen und vor allem: bei Partnerschaften. Eine regelrechte Panik vor Festlegung greift um sich. Auf dem riesigen Markt an „Could haves“ verwirrt uns die Vielzahl der Optionen mehr, als dass sie uns beruhigt. Wir sind völlig überfordert.
Früher glockenhelles Kinderlachen und feste Werte. Heute gefiltertes Tinderlachen und feste Ärsche (Man verzeihe mir meine Wortwahl.) Verwöhnt vom 100-Tage-Rückgaberecht.

Der „choice overload effect“ hält uns davon ab, eine Entscheidung zu treffen. Er lähmt uns.

Statt sich, wie ein Surfer, ein Stück raus zu wagen und sich dann ganz bewusst für eine Welle zu entscheiden, bleiben viele in vermeintlich sicherer Strandnähe und werden dann mit Pech von den Brandungswellen hin- und hergeworfen. Bis diese über ihnen brechen und sie des Haltes und der Orientierung berauben.

Dabei geht es doch gar nicht so sehr darum, JA zu sagen. Sondern vielmehr einfach mal: NEIN!

Wenn mein Gefühl sagt, etwas passt nicht zu mir oder ich möchte das jetzt nicht: warum dann nicht klar kommunizieren?

Wir stehen am Buffet der Möglichkeiten und hauen uns die Teller voll. Stochern in allem halbherzig rum und lassen den Großteil dann doch völlig übersättigt drauf. Oder wir lassen uns breit schlagen (weil wir nicht nein sagen können) und nehmen noch was mit nach Hause – obwohl wir definitiv nicht vorhaben es noch zu essen.

Warum neigen manche dazu, Menschen im übertragenen Sinn in Frischhaltefolie zu wickeln und in den Gefrierschrank zu legen? Für später? Falls man mal „in Not“ kommt?

Da ist emotionaler Gefrierbrand doch vorprogrammiert!

Sätze wie: „Ich habe kein Interesse./Ich denke es passt nicht./Ich möchte das nicht vertiefen.“ sind weder einfach noch angenehm – für keinen. Aber sie sind ehrlich. Und sie schaffen die Zerrissenheit ab, die bei beiden Parteien definitiv vorhanden ist. Im Orbit zwischen Hoffnung und Illusion ist viel Raum für Spekulation und Projektion. Und letztere schafft viel zu oft Enttäuschung.

Lassen wir uns bei Gelegenheit doch mal wieder Rückgrat wachsen! Sagen wir doch einfach der nächsten Einladung zur Silvesterfeier zu! Oder ab! Sagen wir doch einfach mal „Nein, Danke!“ oder „Ja, bitte!“. Einfach mal zueinander halten, statt hinhalten.

Streichen wir doch einfach mal das „vielleicht“ vom Zettel. So ganz oldschool.

Schaffen wir das?

5 Gedanken zu “Oldschool – die alte Schule

  1. Silke Vocks-Bielert sagt:

    Es ist immer wieder eine Freude diese wunderbar wahren einfühlsamen Lebensgeschichten und Betrachtungen nicht nur zu lesen, sondern auch darüber zu schmunzeln und nachzudenken, manchmal auch gedankenverloren ein JA zu flüstern… Vielen Dank dafür!

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  2. BeeKay sagt:

    B. and C. thought about being a pair,
    after all, she had long and beautiful hair.
    What’s more, she loved his bright-red car,
    and how cool it was that he worked at a bar.

    Asked C.: do you want to go out
    with me?
    Answered B.: mmm let’s see,
    yes, may well be.

    Asked C.: would you like to meet
    at the end of the street?
    Answered B.: that might work out,
    but I’m still in doubt.

    Asked C.: after my lesson of harp,
    at 5 o’ clock sharp?
    Answered B.: you know what’s the best,
    I’ll send you a text.

    B. and C. never met.
    That was the end of that.

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  3. BeeKay sagt:

    I like your analysis of the problem, as well as your proposed solution in favour of a clear „yes“ or „no“ (indeed an honest „no thanks“ hurts a lot less than a fake „yes maybe“, at least in the longer term). However, I think we need a third category to replace the „vielleicht“. In our fast, smart-phone, always-available world, we need a „let-me-think-about-it, I’ll-get-back-to-you“ (and then you do get back, of course). Because even our Bauchgefuehl might need a little longer than the typical WhatsApp reply time to figure out whether it’s a yes or a no.

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