„Dieses scheißhistorische Pflaster…“
poltert es durchs Fenster auf die Brücke.
Jung und geschichtsbanausig, sollte man meinen. Ich lunze aus dem altehrwürdigen Rahmen nach draußen – und bin etwas überrascht.
Eine ältere Dame zieht mit mürrischem Blick ihren Einkaufstrolley hinter sich her – oder vielmehr, versucht es. Es holpert und kommt aus dem Zugrhythmus – des scheißhistorischen Pflasters wegen. Freilich, denk ich so bei mir, das nervt. Da darf man auch mal schimpfen.
Manchmal ist die Vergangenheit, auf der man seinen Lebensweg bestreiten muss, eben holprig und uneben. Und wenn man dann noch sein Päckchen zu tragen hat, mal mehr – mal weniger schwer, und die Kraft langsam weniger wird, dann darf man erst Recht schimpfen.
Aber nur kurz. Nur als Ventil, damit der Druck kurz weg ist.
Dann sollte man stehen bleiben.
Durchatmen.
Den physikalischen Kräften kurz die Intensität nehmen.
Und langsam weiterlaufen.
Denn, sich zu sehr darin zu verlieren, raubt nur weitere Energie. Die Vergangenheit, der Boden auf dem wir laufen, ändern wir dadurch nicht.
Sinnvoll ist einzig, sich auf das Jetzt zu konzentrieren, damit man nicht über die Unebenheiten stolpert. Ab und an nach vorne zu schauen und sich langsam, aber stetig einem neuen Fundament zu nähern.
Passend dazu gibt es eine Erzählung aus Indien, die mir immer wieder in den Sinn kommt, wenn sich jemand zu sehr in seinen Sorgen verliert:
In einem Dorf stand eine starke uralte Eiche. Eines Tages forderte der Dorfälteste alle Dorfbewohner auf, ihre Probleme und Sorgen in ein Paket zu packen und auf die Eiche zu hängen. Der alte Mann stellte allerdings eine Bedingung: Jeder, der ein Paket auf den Baum band, musste dafür ein anderes mitnehmen.
Alle Dorfbewohner waren damit einverstanden und machten sich eiligst daran, ihre Sorgen und Nöte in ein Paket zu verschnüren und an den Baum zu hängen. Jeder von ihnen nahm ein Paket mit Problemen eines anderen Dorfbewohners mit nach Hause.
Doch innerhalb kurzer Zeit kam es zu einer großen Aufregung. Die Bewohner eilten zum alten Mann und beschwerten sich, dass die fremden Sorgen wesentlich größer sind als die eigenen.
Der Alte lächelte.
Und es dauerte nicht lange, da packten alle Dorfbewohner die fremden Sorgen wieder in das Paket und brachten dieses zu der Eiche zurück. Schließlich gingen alle Bewohner wieder mit ihrem Sorgen-Päckchen nach Hause.
Jeder, den du triffst, hat irgendetwas erlebt. Der eine hat mehr Kraft es zu tragen, der andere weniger. Manchmal entwickelt sich dieser Resilienzmuskel eben erst mit der Menge oder Drastik der Erlebnisse.
Und wie traurig und leer wären wir nicht ohne Historie.
Wir wären
unbeschriebene Blätter,
leere Bücher.
Wären Züge ohne Gleise,
verlorene Maschen.
Wären Bäume ohne Wurzeln,
Herzen ohne Schlag.
Wären Fische ohne Flossen,
Schmetterlinge ohne Farben.
Lasst uns jedes scheißhistorische Pflaster feiern, Narben streicheln, die Tränensäcke voller Sorgenpäckchen schultern und losstolpern in eine ungewisse Zukunft.
Heute ist schon meine letzter Tag auf der Brücke. Die Zeit ist verflogen, Dinge haben sich geändert. Ich bin weniger zum Schreiben gekommen als erhofft. Dafür mehr zum Weinen. Und auch zum Lachen. Zum Fühlen und zum Kraft schöpfen. Habe fremde Menschen von Liebe und Verlust reden, sie lachen und streiten hören.
Habe Gedanken geklärt, wie ein Goldwäscher. Habe meinen Weg mit neuen „Stolpersteinen“ versehen. Oder besser: gepflastert. Weil es auch etwas Heilsames hat.
Eine weitere Geschichte in meiner Geschichte ist zu Ende.
Offiziell bin ich kein Stattstadtmädchen mehr.
Offiziell bin ich wieder ein Stadtmädchen.
Warum? Ein befreundeter Herzensschreiber hat dafür sehr treffende Worte gefunden:
Zu gehen, nicht obwohl, sondern weil man jemanden liebt … das ist unerhört weise, aber sicher auch schwer zu ertragen. Aufrichtige, gegenseitige Liebe ist so selten, wie bitter, wenn man sie aufgeben muss.
(Hach, Tim!)
Ganz profane und doch schmerzhafte Gedanken haben mich begleitet. Was passiert mit meinem Blog? Umbenennen? Aufhören zu schreiben?
Kartoffelgeschichten wird es nicht mehr geben. B. ist nicht mehr mein B.
Aber das „scheißhistorische Pflaster“ wird immer zu mir gehören. Ich nehme es mit, in die Stadt.
Ich hör´nicht auf. Ich fang´erst richtig an.
Kommt ihr mit?
Sehr schön geschrieben. Und so wahr. Ich finde immer, man sollte aus allem was positives ziehen. Bei mir ist das Glas immer halb voll. Man weiß nie, für was es gut ist. Und man ist um eine Erfahrung reicher. Ich würde den Blog nicht umbenennen. Ich lese gerne hier. Gruß Katrin
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Danke … von Herzen
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Du hast auch mein leben gerade wieder punktgenau getroffen. Dein Artikel berührt mich zutiefst. Auch die Worte von Tim. Sehr tiefsinnig und unheimlich zutreffend.
ich würde mich gerne auch außerhalb des Blogs mit dir austauschen. Wenn du magst, natürlich nur…
liebe grüße und Kopf hoch!
Katja
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Selbstverständlich… sehr gern
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Wie stellen wir das an?
Ich würde mich sehr freuen.
Vielleicht gibt dir folgendes Trost: das Leben ist so viel schlauer als wir. Es bringt uns zur richtigen Zeit an den Punkt, an dem wir am meisten wachsen können.
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So sieht es aus. Eine sehr gute Freundin sagt immer: das Leben liebt dich. Es will dir nichts böses.
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Hast du die Möglichkeit mir über Facebook oder Instgram eine Nachricht zu senden?
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Du liebe, nun hatte ich auch wieder Tränen in den Augen. Ich wünsch dir alles Glück der Welt. Und denk an das Lied von Marc Forster“ Egal was kommt , es wird gut sowieso, immer geht ne neue Tür auf irgendwo. Auch wenns grad nicht so läuft wie gewohnt, egal es wird gut SOWIESO.
Und bitte schreib weiter, du gibst uns so viel Kraft und wir sind alle in Gedanken dadurch mit dir verbunden. Alles Liebe Simone
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❤
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Weiter schreiben! Nicht aufhören! Ich komme mit! Du bist und bleibst das Stattstadtmädchen! 😘
So haben wir dich kennen und lieben gelernt!
LG deine eine Franzi von Vielen 😉
Drück dich!
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Umbennen? Aber nur ganz wenig!
Wie wär’s mit Stadtstadtmädchen?
Immerhin bist du ja jetzt wieder eines. Quasi zum 2. Mal.
Aufhören? Auf gar keinen Fall! Mach‘ unbedingt weiter so!
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Also ich komme auch mit… ob Stattstadt oder Wiederstadt ist egal… Hauptsache Du machst weiter!!!
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Hey liebe Franzi,
da habe ich doch auch gleich geflennt: Warum? Ein befreundeter Herzensschreiber hat dafür sehr treffende Worte gefunden:
Zu gehen, nicht obwohl, sondern weil man jemanden liebt … das ist unerhört weise, aber sicher auch schwer zu ertragen. Aufrichtige, gegenseitige Liebe ist so selten, wie bitter, wenn man sie aufgeben muss.
Ja, auch ich habe genau das vor 1 ½ Jahren gemacht und meine Wunden heilen langsam. Du kannst so stolz auf Dich sein – nur wenige Menschen werden im Laufe des Lebens so eine gewaltige Erkenntnis finden/treffen und ihr Inneres Licht damit zum Strahlen bringen …
Aber deswegen nicht mehr das sein, was einen ausmacht??? Du bist ein Stattstadtmädchen, auch wenn Du in der Stadt lebst.
Und ich ein Dorfkind, auch wenn ich oft in die Welt ausbreche …. Ich stromer eben gerne
Denn „Die Welt gehört denen, die ausbrechen und nicht denen die einknicken.“ (unbekannt – hängt als eigene illustration in meinem Flur)
Deswegen – genieße diese großen Gefühle und die Gewissheit, dass Du was hast, was viele nicht haben: PERSÖNLICHKEIT!!!!
Und sei‘ gespannt, auf die innere Ruhe, die Dich bald erfüllt J
Fühle Dich gedrückt, umarmt , verstanden und geherzt.
Liebe Grüße
Tanja
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Tanja ♥️ Schwester im Geiste. DANKE! ♥️
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