Kein Wetter

Hier in Erfurt herrschen winterliche Verhältnisse wie seit Jahren nicht. Um genau zu sein: Seit ziemlich genau 10 Jahren und anderthalb Monaten. Damals versank Erfurt über Weihnachten im Schneechaos. Ich weiß das deshalb so genau, weil es in mir überraschend ähnlich war. Der Vater lag im Sterben, das Herz war doppelt gebrochen, die Arbeit lief daraus resultierend auch eher semi. Und während der Wetterbericht einem zumindest eine kleine Vorausschau geben kann, wann sich die Temperaturen ändern, oder ob es so bleibt, weißt du bei einer depressiven Phase einfach nicht, wann es vorbei ist. Es gibt keine Vorhersage.

Praktisch wär´s! Ein:e Wetterfee, die vor einem Bluescreen steht und dir deine nächsten Tage prophezeit. „Heute ziehen im Verstandsnorden im Verlauf des Tages dichte Wolken auf, während die Herzmitte mit heftigen Schauern zu kämpfen hat. Der Süden bleibt trocken. In den nächsten Tagen dürfen wir im gesamten Gebiet mit frühlingshaften Temperaturen rechnen.“

Frühling. Außen Schneechaos, innen Lenz – auch das geht, wie ich heute weiß. Auch Sommer im Außen und Weltall-artiges Vakuum innen. Alles taub. Ohne Luft kein Wetter.

Je öfter man diese Kapriolen mitmacht, um so dankbarer ist man für die kleineren seismischen Ausschläge im persönlichen Erdbebengebiet. Die, auf die man routiniert reagieren kann und so Schäden vermeidet. Die Hand, die unbeeindruckt die Vase festhält, wenn´s wackelt.

Ziemlich viele Bilder für so einen kurzen Text. Aber ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll. Sensible Menschen leben auf einem Gebiet, auf dem sich die Emotionalplatten übereinander schieben. Die meiste Zeit ist alles ruhig, trotz Bewegung. Manchmal nimmt man ein Beben nur am leisen Klirren der Gläser im Schrank wahr (oder der unvollständigen Tassensammlung) und manchmal rappelt´s richtig im Karton.

Und nun? Der Seismograph erfasst aktuell keinen nennenswerten Aktivitäten. Ich bin einfach da, beobachte im Außen und im Innen und schreibe.

Gestern beispielsweise bin ich einfach ein paar Schritte in den Park gegangen. Während in den Winternächten der Himmel schwarz und die Straßen weiß sind, ist es am Tag gleißend hell und still. Vor allem still. An den Wegesrändern leuchtet der Schnee in den unterschiedlichsten Gelbtönen. Unweigerlich keimt der Gedanke in meinem Kopf, ob diese farbliche Explosion vollständig tierischen Ursprungs ist. Andererseits – es sind -16°C, wer würde da freiwillig…?

Die Sitzflächen der Parkbänke sind längst entfernt. Nur die steinernen Pfeiler stehen noch. Ich fege die Schneehaube von der Oberfläche und setze mich darauf. „Auf kalten Steinen sitzen ist nicht gut für deine Blase!“ höre ich in meinem Kopf jede weibliche Generation meiner Familie mich tadeln. „Du holst dir noch eine Entzündung!“ Fast warte ich auf die Frage nach dem Unterhemd. Die könnte ich kontern. Skiunterwäsche! Bäm!
Beim Einatmen frieren mir die Nasenlöcher zusammen, obwohl die schon echt klein sind und gar nicht so viel Luft hinein lassen. Beim Ausatmen sehe ich aus wie einer dieser Räucher-Drachen aus dem Asia-Großhandel. Dampf steigt auch aus meiner Thermoskanne, die der naiv-romantische Teil in mir für den Spaziergang vorbereitet hatte.
Ich setze zufrieden zum Nippen an und muss husten, weil der heiße Dampf durch meine Atemwege schnellt. Auch der Tee ist eindeutig zu heiß, um ihn zu trinken. So viel zum Thema Romantik.

Wenn ich jedoch meine Augen schließe und das Gesicht mit den kleinen Nasenlöchern in die Sonne halte, hier an diesem ruhigen Ort, warm eingepackt mit einer zu heißen Tasse Tee in meiner Hand, und die Vögel zwitschern höre und die Tauben gurren, dann fühlt es sich fast wie Frühling an. Ich muss an Albert Camus denken, der so schön formulierte: Mitten im tiefsten Winter wurde mir endlich bewusst, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer wohnt.“

Hier sitze ich. Höre nur hin und wieder den Schnee unter fremden Schuhen knirschen, an den Füßen von fremden Menschen, die in fremden Leben weilen. Und fühle mich komplett. Ich öffne die Augen und betrachte den Schnee, der auf den Wiesenflächen teils noch unberührt in der Sonne glitzert, als läge er in der Auslage eines Juweliers. Und irgendwie ist es das auch in diesem Moment, das Leben.

Nicht alles, was glitzert und glänzt, müssen wir besitzen. Manchmal macht nur Betrachten reicher.

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