Fensterdialoge

„Heutzutage weiß man nicht einmal mehr, wer im eigenen Haus wohnt. Die Menschen ziehen sich zurück, aber machen sich nackig wenn´s um ihre Daten geht!“

Wir sitzen vor dem großen Panoramafenster in der kleinen Wohnung meiner Großeltern, als mein Opa diesen Satz sagt und ich seine Worte stumm nickend bekräftige.
Wie Recht er hat. Wir bleiben im Analogen anonym und im Digitalen verschwenden wir uns selbst. Ich fühle mich ertappt.

Ich sehe sie nicht so oft, wie ich könnte. Wir leben in der gleichen Stadt und doch ist die Zeit oft zu knapp. Oder meine Energie.
Wie oft besuchen wir Menschen, die uns nahe stehen nicht, weil wir vermeintlich besseres zu tun haben. Und wie oft vermeiden wir dieses Zusammenkünfte, um Kraft zu sparen? Ja, hin und wieder kann so ein Besuch anstrengend sein. Manchmal reden alle gleichzeitig. Manchmal keiner. Manchmal hört man Dinge zum gefühlt hundertsten Mal und manchmal will man einfach nicht wahr haben, wie alt diese Menschen tatsächlich schon geworden sind. Und wie endlich unsere Zeit ist.

Vielleicht wollen wir das ausblenden, Momente vermeiden, in denen uns ihre und damit auch unsere Sterblichkeit bewusst wird. Und ja, es gibt Sätze die weh tun, weil sie genau dieses unbegreifliche Thema so greifbar machen.

Wenn meine Großeltern von ihren Reisen erzählen – die ja erst nach der Wende wirklich möglich waren. Wenn wir in den Fotoalben blättern, die so liebevoll mit Kartenausschnitten und Beschriftungen versehen sind – weil sie ihnen vielleicht doch etwas mehr bedeutet haben als uns heute, in all´ der Freiheit die wir haben.

Wenn mein Opa dann mit glänzenden Augen sagt: „nur nach Ägypten habe ich es nie geschafft. Ich wollte immer schon die Pyramiden sehen und die alten Gräber.“ Bereits zu DDR-Zeiten hat er sich über Kontakte Bücher beschafft, die vom königlichen Land am Nil handelten. (Das muss man sich mal überlegen – selbst für das Reisen in Büchern brauchte man Beziehungen.)
Seinen glasigen Blick zu sehen in diesem Moment, wenn er sagt: „diese Reise blieb mir verwehrt.“ Das klare Wissen, dass man etwas, von dem man so geträumt hat, in diesem Leben nicht mehr erleben wird – das muss eine unglaubliche Wucht haben. Auf mich hatte es das.

Wir sind noch so blutjung. Wir sind so unverschämt frei. Wir sollten keinen einzigen Wimpernschlag damit vergeuden, unsere Träume aufzuschieben. Das Einzige was wir schieben sollten, sind unsere Ängste und unsere Ausreden, etwas nicht zu können. Und zwar ganz weit weg!

Denn was nützen Ängste heutzutage? Opa sagt: „Dann kannst du dich auch gleich mit dem Stuhl in den Keller setzen. Und wenn du Pech hast, wirst du vom Regal erschlagen.“

Und was nützen Ausreden? Opa sagt: „Meine Rente wird nicht mehr, nur weil ich mich darüber beschwere, dass sie so klein ist. Man muss die Energie dafür aufwenden, kreativ damit umzugehen.“

Es sind diese so einfachen und doch so pfeilgenauen Sätze, die man von solchen „Anstandsbesuchen“ mit nach Hause nimmt.
Und das Bild von einem Paar, das schon jenseits der 80 Jahre ist und das ganze Leben miteinander verbracht hat. Sie sind miteinander gereist und können mit ihren Enkeln in ihren Fotoalben blättern. Sie haben Schicksalsschläge überwunden und sich sicher auch hin und wieder in Frage gestellt. Aber am Ende wurde diese Frage immer mit einem JA beantwortet. Zwei Buchstaben, die soviel bedeuten.
Sie können noch immer miteinander lachen und haben genaue Tagesabläufe und „Ressorts“.

Wir sitzen vor ihrem Panoramafenster in ihrem „Salon“. Einem 8 qm großen Raum, in dem ihr Esstisch steht. In dem sie jeden Morgen frühstücken und an jedem Sonntag ihr Mittag zu sich nehmen. Sich an den Spatzen erfreuen, die ein Bad in der bereit gestellten Wasserschale vorm Fenster nehmen. Und von dem kleinen Jungen erzählen, dessen Mutter täglich auf dem Weg zum Kindergarten warten muss, weil es soviel für ihn zu entdecken gibt.
Ich spüre die Dankbarkeit von bescheidenen Menschen, die wissen, dass Ägypten in diesem Leben ein Traum bleiben wird.

Ich nehme all das in mich auf. Und ich finde diese symbiotische Zweisamkeit auf liebevolle Weise schräg. Und finde es gleichzeitig schräg, dass ich es schräg finde. Weil mein Weg ein so anderer scheint.

Ich spaziere allein durch die Stadt zurück in die Wohnung, in der ich allein lebe. Bewusst und selbst gewählt allein. Ich beobachte die Menschen, die mir begegnen. Pärchen, die lächelnd des anderen Hand halten. Glückliche Familien mit kleinen Kindern, die fröhlich glucksend rufen: „Opa, fang mich! Los fang mich! Nur noch einmal …“

Nur noch einmal …
So vieles könnte nur noch einmal passieren. Lasst uns unsere Zeit nutzen.

 

9 Gedanken zu “Fensterdialoge

  1. Stargamer sagt:

    Zeit ist das Einzige was man nicht aufschieben kann, was man mit Geld nicht kaufen kann. Wir leben m.M.n. in gefährlichen Zeiten, da sollte man seine Energie dafür nutzen, das Beste aus all dem zu machen wie man seine Zeit verbringt.
    Seit der Geburt meiner Tochter, ist mir noch bewusster geworden, wie wertvoll Zeit und alles andere ist.
    Es ist schön geschrieben (ich kenne deinen Blog noch nicht) und ebenso beneidenswert.

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  2. Jasmin sagt:

    So schön geschrieben und so wahr!
    Und manchmal suchen und suchen wir nach Antworten auf der ganzen Welt und können sie letztendlich im Wohnzimmer der eigenen Großeltern finden.

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  3. Hans-Christian Piossek sagt:

    Vielen Dank für diesen wunderbaren Text. Gerade war unsere jüngste Tochter, einer unserer Enkel mit Freundin und unserer Urenkelin zum Ostermontagsnachmittagskaffee bei uns zu Besuch. Im Nachhinnein lese ich gerade ihre Zeilen, schaue mir die Bilder an, die ich mit meinem Smartphon gemacht habe und freue mich, dass ich das mit meiner Frau erleben darf. Ja, ihr Lieben, die ihr das Leben noch vor euch habt. ja, „im Kreis treibt die Zeit (Sigrid Damms Buch habe ich gerade ausgelesen) und diese Zeit solltet ihr nutzen, die Alten zu befragen, solange es noch geht. Schöne Woche wünsche ich …

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