Über Nacht ist Schnee gefallen, stellt Carla fest, als sie morgens aus dem Fenster schaut. Der Papiermüll müsste mal wieder entsorgt werden, denkt sie ablenkend und stopft ein weiteres Relikt des Konsums hinein. Ein bisschen geht schon noch. Vermutlich ist die Tonne im Hof ohnehin voll, dann kann sie es genauso gut hier oben sammeln. Der Gedankenstrang vieler Bewohner von Mietshäusern. Horten und warten, bis das Papier von der städtischen Entsorgung abgeholt wurde und die Tonne damit wieder Platz bietet. Nur um dann den in der Wohnung angesammelten Papierwust in die Tonne zu schmeißen, die dann innerhalb eines Tages wieder voll ist. Weil das eben alle machen. Und dann wartet man wieder vier Wochen und sammelt Papier zu Hause. Der natürliche Rhythmus des zivilisierten Städters.
Über Nacht ist Schnee gefallen, die Wohnung kühl. Statt die Heizung aufzudrehen, kocht sich Carla einen Tee. Der wärmt von innen. Und sie ist geneigt, sich das zu glauben. Es ist schließlich einer dieser Yogi Tees. Ingwer Zitrone. Der soll einem das Gefühl vermitteln, sehr gesund und auf spirituellen Pfaden wandelnd zu leben. „Intuition und Intelligenz sind zwei Freunde“ steht auf dem Teefähnchen zu lesen. Carlas Intuition sagt ihr, dass sie gerade weder besonders gesund, noch erleuchtet ist. Und dass der Tee im Grunde ein Beweisstück dieser These ist. Carlas Intelligenz sagt ihr, dass ein Stück Ingwer und eine frische Zitrone, verwegen kombiniert mit heißem Wasser, günstiger und spiritueller gewesen wären, als ein weiteres Kleinod des Kapitalismus zu horten.
Heute nimmt sie zwei Beutel, denn heute kocht sie sich eine ganze Kanne Tee. „Lass dein Verhalten für dich sprechen“, flüstert das zweite Fähnchen. Sie entsorgt die Papierhüllen, die schützend um die Beutel gewickelt waren. Sie finden keinen Halt, zu voll ist der Eimer. Eines fällt auf den Küchenboden. Carla lässt es resigniert liegen.
Über Nacht ist Schnee gefallen. Hätte sie nicht aus dem Fenster geschaut, spätestens Instagram hätte es ihr verraten. Vor-Ort-Berichterstattung bis in die kleinsten Straßenzüge hinein. Wer hätte das damals ahnen können, als Meteorologie als Studienfach eingeführt hat. Wieso nur war ihr eigentlich nie die Wortstammnähe zu Meteor aufgefallen? Sie ertappt sich dabei, wie sie sich im Googlelabyrinth verliert. Wie sie sich Wissen aneignet zu Meteoriden, Meteoren, Meteoriten, was davon Sternschnuppen sind, dass man zwischen Hydrometeoren (Wolken, Regen, Schnee), Elektrometeoren (Blitze, Polarlichter), Lithometeoren (Staubteilchen) oder Photometeoren (Regenbogen) unterscheidet und vergass dabei bereits den ursprünglichen Impuls der Suche. Viel zu viel Wissen für viel zu dysfunktionale Synapsen. Im Fett der Sozialen Medien frittiert.
„Über Nacht ist Schnee gefallen“ hört sie schon die freudigen Rufe, liest die freudigen Mitteilungen, wartet auf die freudige Frage: „Ist das nicht ganz wunderbar?“ Und Jahr um Jahr wartet Carla auf die enttäuschten Gesichter, wenn sie mit deutlich weniger Enthusiasmus antwortet: „Naja. Wenn´s sein muss. Muss wohl.“ Mimik, die von Enttäuschung zu Unverständnis wechselt. „Wie kann man denn den ersten Schnee nicht lieben?“
Ich würde ja gern, denkt sie meist bei sich. „Keine Ahnung“, sagt sie dann oft. „War vielleicht nicht darauf vorbereitet.“ Und natürlich ist das gelogen. Sie ist schon lange darauf vorbereitet. Eigentlich wartet Carla immer auf den Winter. Selbst im Sommer wartet sie darauf, dass es plötzlich kalt wird. Emotionsgedächtnis vs. Proust-Effekt vs. Pawlowscher Reflex, analysiert die Küchenpsychologin in ihr. Die, die so viel gegoogelt hat.
Über Nacht ist Schnee gefallen und das kann man riechen. Nicht den Schnee selbst, aber was er mit der Luft macht. Sie ist so rein. Dringt in die Lungen wie frische Minze. 2015 brachte diese Minze den Tod mit. Jedes Knirschen, jedes Glitzern verknüpfte Carla nun damit. Auch das veränderte Geräusch, das die Stadt dann machte, weil der Schnee so viel schluckt. Damals verschluckte er die Leichtigkeit gleich mit. Über Weihnachten machte sich der Schnee auf, einen neuen städtischen Rekord zu brechen. 45 cm am 27. Dezember. Wie romantisch, sagen die einen.
Wie schwer einen Parkplatz auf dem Klinikgelände zu finden, denkt Carla. Wie schwer einen starken Mann zu halten, der selbst keine Kraft hat, sich gegen die Glätte zu wehren. Wie sehr der hohe Schnee im Park die Schritte verlangsamt, wenn es schnell gehen muss. Schmilzt er, bis das Grab ausgehoben wird? Oder ist die Erde so hart gefroren, dass die Bestattung verschoben werden muss? Gedanken wie Minusgrade.
Über Nacht ist Schnee gefallen. Ein weiteres Mal versucht sie, sich dessen Romantik zurück zu erobern. Das Glitzern im frühmorgendlichen Schein der Straßenlaterne als verlorene Diamanten zu sehen. Sich vorzustellen, wie Schneeflocken jauchzend kleine Türmchen auf Ästen bauen; wer als letzte darauf landet, ehe es einstürzt, hat verloren. Versucht, den dampfenden heißen Tee in der klaren Luft zu genießen, während sich ihre kalten Hände wärmesuchend um die Tasse legen. Sie will „klirrende Kälte“ übereinander bekommen. Denkt aber auch in diesem Jahr eher an klirrende Gläser, die beim Zuprosten schwingend vom Erfolg und der Freude singen. Versteht aber auch in diesem Jahr nicht, was es an der plötzlichen Kälte zu feiern gibt.
Carla atme Minze ein. Schließt die Augen. Schmeckt Ingwer-Zitrone.
Das Telefon klingelt. Die Nummer schon bekannt. Die Klinik.
Über Nacht ist Schnee gefallen.
Sehr schön geschrieben 🤗 und ganz viel DU ❤️❤️❤️
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The snow covers,
Quietly and softly,
The wounds of the world.
But not your own,
Loud and screaming,
Memories.
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Wundervoll 🖤
Und wundervoll authentisch – diese Carla..
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