Einfach komplex

Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Wir, eine sehr agile, kreative und schwer beschäftigte Gruppe von etwa 10-jährigen Mädchen planten den Bau eines „Pools“ in einem unserer liebsten Rückzugsorte. Einer – für uns- riesigen Grünanlage mit Buschberandung, die in unserem Wohngebiet lag. Es war Anfang der 90er Jahre. Wir waren klein, sind in das Dickicht gekrochen und haben uns im Sommer im Schutz der langen Äste, die zu einer Art Hohlraumlabyrinth verwuchsen, kleine Behausungen gebaut. Eine Höhle, auf kindromantische Art.

Wir brachten Decken hierher, teilen sogar nach Wohn- und Schlafraum auf. Natürlich haben wir nie wirklich dort geschlafen, nur in unseren sehr wachen Träumen. Hier konnten wir zusammen sein, versteckt vor der Welt und doch nah genug an zu Hause, falls der Süßigkeiten Vorrat zur Neige gehen sollte. Und die perfekte Ergänzung, so schien es uns in diesem warmen Sommer, wäre ein kleines Schwimmbecken zur Erfrischung.

Aus unserer Sicht war die größte Hürde, Schaufeln und Planen (sprich große Mülltüten) an unseren Eltern vorbei zu schmuggeln. Der Rest wäre lediglich körperliche Arbeit. Ein Loch ausheben, mit Planen (Mülltüten) verkleiden und dann immer mal wieder eine Flasche Wasser von zu Hause mitbringen, um nach und nach das flüssige Paradies zu füllen. Auf die Mülltüten kamen wir, weil sie blau waren. Schließlich waren die Pools, die wir von Bildern aus den Reiseprospekten kannten, auch alle blau.

Aus unserer Sicht, mit den vorhandenen Kenntnissen, hatten wir den perfekten Plan geschmiedet. Was sollte schon schiefgehen. Hatten wir doch keine Ahnung von Baubehörden, Grundstückseigentum, Mikroorganismen, Arbeits- oder Naturschutz. Woher auch? Wir waren mit diesen Infos einfach noch nicht dran. Die Komplexität der Welt lag in weit entfernten Räumen, die wir erst viel später betreten sollten. Nichts davon stand in unseren Büchern oder war Thema bei Lehrer:innen oder Eltern. Wieso auch. Und mehr Informationsquellen hatten wir nicht.

Auch in den Teen- und Twenjahren gab es noch solche Momente. Wir haben in leerstehenden Hallen eigene Skate Ramps und Rückzugsräume gebaut. Haben mit Brotmessern Holz gesägt, weil wir kein Werkzeug hatten (@Stefan vor gut 18 Jahren im Zughafen, du erinnerst dich sicher gern?) Wir haben häufig mehr gemacht als gedacht und dann aus unseren Fehlern gelernt. Das hat Zeit und Kraft gekostet, uns aber das Gefühl gegeben, handlungsfähig zu sein, etwas verändern zu können. Wir kannten nicht alle Regeln und haben uns deshalb nicht an sie gehalten. Manchmal wird einem erst im Rückspiegel bewusst, wieviel Glück man eigentlich hatte und noch hat.

Je älter ich wurde, desto komplizierter schien mir die Welt zu werden. Weil ihre Komplexität immer sichtbarer wurde. Als Kind schaute ich in die Ferne, selten in die Tiefe. Die Welt war riesig. Tage kamen mir wie Wochen vor, Monate wie Jahre. Ganz besonders, wenn es etwas gab, auf das ich mich freuen konnte. Geburtstag, Weihnachten, Ferienbeginn. Mit den Jahren ändert sich das Zeitempfinden. Ich musste immer mehr Dinge in immer kürzerer Zeit verstehen. Hat die Digitalisierung darauf Einfluss genommen? Womöglich. Durch neue Technologien hat dieser Prozess an Geschwindigkeit zugenommen. Wo vieles einfacher wird, treten gleichzeitig viele Systeme miteinander in Wechselwirkung.

Kinder sehen heute viel früher Dinge, die vielleicht noch nicht für sie bestimmt sind. Sie fragen. Und verstehen oft schon viel eher, als wir damals. Aber auch ich als Erwachsene (oh man, schräg, das zu schreiben) muss immer wieder Zusammenhänge neu verweben und kann mich dabei nicht immer auf den Wahrheitsgehalt aller Informationen verlassen. Die Welt scheint kompliziert, weil sie so komplex ist und doch darf man diese Worte nicht als Synonyme verstehen.

Kompliziertheit lässt sich durch eigenes Verstehen aufbrechen. Und die Sehnsucht danach ist groß. Deshalb hält man sich so sehr an einer Wahrheit fest, wenn man meint, sie einmal gefunden zu haben. Besonders, wenn sie einem den Rücken stärkt, das Gefühl gibt, etwas Kontrolle zu haben, weil man vermeintlich den Durchblick hat.

Der Anspruch jedoch, auf jedem Gebiet den vollen Überblick haben zu müssen, scheint mir überzogen. Noch skeptischer werde ich, wenn Menschen mir suggerieren wollen, dass sie genau das in kürzester Zeit schaffen. Natürlich bietet das Internet eine schier unendliche Informationsquelle, aber vergleichsweise selten eine Verifizierung. Noch dazu müssen all diese Informationen in unserem corpusinternen Hochleistungs-Rechenzentrum verarbeitet und entsprechend zusammen gesetzt werden. Ich sage nicht, dass das unmöglich ist. Für den/die Durchschnittsbürger:in aber vermutlich nicht ohne gröbere Schnitze machbar. Zumal man von vielen Sachverhalten nur Kurzfassungen zu sehen bekommt und nur zu gern den ein oder anderen Fakt beiseite lässt, um die eigene Wahrheit nicht zu gefährden.

Der Mensch neigt außerdem dazu, Fakten zu interpretieren, um sie zu verstehen. Und Interpretationen beruhen zum Teil auch auf Erfahrungen, die je nach Individuum naturgemäß unterschiedlich sind. Oder wir übernehmen fremde Deutungen. Ich bin deshalb selbst sehr vorsichtig mit unaddressierten Äußerungen im Netz, weil mir stets bewusst ist, dass ich nicht im Besitz der einen Wahrheit bin. Manchmal fast schon ängstlich, weil an jeder Ecke das digitale Nudelholz der Interpretation wartet, statt dem Gespräch bei einem Teller Pasta.

Aber natürlich will auch ich verstehen. Also lerne ich von verschiedenen Menschen, die sich auf Themengebiete spezialisiert haben. Die ihren Fokus tatsächlich darauf legen, in die Tiefe zu gehen. Ich höre Betroffenen zu. Ich tausche mich in direkten Gesprächen aus, mit Freund:innen und Bekannten, die auch andere Meinungen und Perspektiven haben.

  • Ich gestehe mir zu und ein, nicht mit der Geschwindigkeit der Welt mithalten zu können; dass es immer mehr geben wird, das ich nicht weiß, als das, was ich weiß.
  • Ich gestehe mir zu und ein, zu sagen: ich habe davon nicht genug Ahnung für eine fundierte Meinung.
  • Ich gestehe mir zu und ein, dass ich manchmal trotz vorhandenem Willen bestimmte Thematiken nicht verstehe.
  • Ich gestehe mir zu, zu gestehen, wenn ich Fehler gemacht habe, die auf Unwissenheit oder Scheuklappen beruhten.
  • Ich gestehe mir aber auch zu, für oder gegen etwas anzugehen, wenn ich mich umfassend informiert habe. Auch mutig und laut. Auch ohne Rücksicht auf persönliche Bindungen, wenn es notwendig ist.

Ich schätze, dass Veränderungen nachhaltiger sind, wenn sie auf Lang-, statt Kurzfristigkeit angelegt sind. Dass die Zukunft berechenbar ist, scheint ein Mythos. Vermutlich sind wir besser beraten, wenn wir uns immer mal wieder überdenken und unsere Wahrheiten hinterfragen. Gemeinsam mit anderen.

Der Universalwissenschaftler Gregory Bateson sagte einmal: „Wenn zwei Augen zusammen sehen, dann entsteht eine neue Dimension.“ Also das ist die Dimension der Tiefe. Ein Auge allein kann das nicht.“ Jede noch so kleine Geschichte ist immer in einen größeren Kontext eingebettet.

Ich bin ein wenig vom Thema abgekommen. Was ich sagen wollte: Wir haben diesen Pool nie gebaut. Die Ferien waren ursächlich für eine schwierige Terminabstimmung. Wir trafen uns immer seltener in unserer Höhle. Im Winter fiel uns durch die kahlen Äste auf, wie fragil unsere Abgeschiedenheit dort eigentlich war. Und dann wurden wir so unglaublich schnell groß. Im Schmutz zu sitzen schien uns plötzlich unfein. Der Traum hielt nur einen Sommer. Die Erinnerung daran ein ganzes Leben. Und manchmal wünschte ich mir diese Einfachheit der Dinge zurück, wenigstens einen Tag im Monat, jedoch nur um die geistigen Batterien wieder aufzuladen.

Denn wir sollten nie aufhören, Kontexte verstehen zu wollen. Und wenn es am Ende nur dafür ist, zu sagen: Für das Ergebnis habe ich kein Verständnis.

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