Bewegte Begegnungen

Sie kam mir in der Innenstadt entgegen. Ihr Blick beschämt. Man merkte deutlich, dass sie sich gerade zu etwas entschieden hatte, das ihr sehr unangenehm war, nun aber nicht mehr zurück konnte.

Sie sah mir fest in die Augen: „Entschuldigung, darf ich Sie etwas fragen?“

„Natürlich.“ Für den Bruchteil eines Moment dachte ich, sie wolle mich nach dem Weg fragen und bereitete in meinem Kopf bereits die Erklärung vor, dass ich nicht von hier käme. Ich war gerade erst eine Stunde in der Stadt.

„Haben Sie vielleicht einen oder zwei Euro für mich? Das ist mir so peinlich.“ Sie schlug ihre Augen nieder, die sich mit Tränen füllen wollten. Tränen, die Scham und Verzweiflung entsprangen.

„Oh“ antwortete ich „eigentlich ist mir das jetzt peinlich. Ich habe momentan kein Bargeld und bin auf der Suche nach einem Geldautomaten. Kommen Sie von hier? Dann können Sie mir sicher helfen.“

Sie erklärte mir den Weg und ich bat sie, mich zu begleiten. Im Gehen erzählte sie mir, dass sie bald ein Praktikum in einem 1€-Laden machen könne, und wenn sie sich gut anstelle, würde vielleicht eine Anstellung winken. Dann könne sie den Kühlschrank wieder füllen. Sie würde so gern mal wieder ein Käsebrot essen. Sie hätte letztens Essen in einem Supermarkt eingesteckt und wurde prompt erwischt. „Ich komme mit wenig zurecht. Aber mit nichts? Ich will nicht klauen. Nur war irgendwann der Hunger größer als die Angst. Ich will das nie wieder machen. Ich bin gläubig. Gott sieht in dein Herz. Ich weiß, er schickt mir irgendwann einen Engel.“

Ich bin Agnostikerin. Ich habe keine klare Meinung zu Gott oder gar Engeln. Es heißt aber, Intuition ist angeborene, unbewusste Weisheit. Ein evolutionär erschaffenes Bauchgefühl. Meine sagte mir: diese Frau meint jedes Wort, das sie sagt. Und selbst wenn nicht; ist es wichtig? Wichtig war: ich hatte eine Verbindung zu ihr. Und sie Vertrauen zu mir. In diesem Moment traf ich eine Entscheidung.

Deutlich entspannter – wir waren mittlerweile beim „Du“ – plauderte sie weiter: „Morgen kommt meine Schwester. Sie ist Juristin. Wir sehen uns das erste Mal nach langer Zeit wieder. Vielleicht hebe ich mir 2 € auf, dann kann ich mit ihr einen Kaffee trinken und ihn auch selbst bezahlen.“ Währenddessen zog ich die Scheine aus dem Automaten. Einfach so. Natürlich habe ich dafür gearbeitet, viel und hart. Und doch wurde mir meine privilegierte Position noch einmal deutlich bewusst. Ich konnte mir einfach Geld aus einem Automaten ziehen.

Ich gab ihr deutlich mehr, als sie erwartet hatte. Sie schaute mich mit großen Augen an. Ungläubig.

„Sag jetzt nichts. Nimm es einfach. Denk bitte nicht, ich bin reich. Aber bei mir macht dieses Geld viel weniger Unterschied, als bei dir. Tu mir dafür nur einen Gefallen: hör nie auf, an dich zu glauben.“

Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. Nur sah ich dieses Mal Mut darin.

Ihr Name war Christina. Vielleicht hielt sie diese Geste für einen reinen, selbstlosen Akt.
Wie konnte sie auch wissen, dass sie eigentlich meinen Tag gerettet hatte.

2 Gedanken zu “Bewegte Begegnungen

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