Zeitkonto

Lasst uns mal …

… verschwenderisch mit unserer Zeit umgehen.

Ich habe den Eindruck, dass wir jetzt mit diesem „Geschenk“ gesegnet wurden, überfordert die meisten von uns.

Bisher war es doch entweder so, dass wir uns die letzte Lücke im Zeitplan tetristrainiert belegten und ein bisschen stolz auf uns waren, wie wirtschaftlich wir doch gearbeitet haben. Oder wir versuchten mit eben diesen Menschen Schritt zu halten und wurden sofort vom schlechten Gewissen gepackt, sobald die Füße auch nur in die Nähe eines Hochs kamen. „Oh Gott. Um mich herum überschlagen sich alle und ich bin faul. Ich fühle mich schrecklich.“ (Wohlgemerkt meist nur, weil man es gewagt hat, den einen 30-Minuten-Slot am Sonntag-Vormittag nicht mit einem sinnhaften Termin zu füllen.)

Wann hat eigentlich der Müßiggang seine Sinnhaftigkeit verloren?

Alle diejenigen, denen jetzt die Entschleunigung verordnet wurde, lassen Langeweile gar nicht erst aufkommen, sondern suchen fieberhaft nach Aufgaben. Schließlich wollen wir möglichst optimiert aus dieser Krise rauskommen.

Ein bisschen, als wollte man sauberen Fußes aus einer Schlammpfütze heraus treten. Viel Glück!

Mal ganz ernsthaft: warum nicht einfach mal die Gummistiefel anziehen und im Matsch stampfen?

Wir dürfen traurig, wütend, angefressen und unzufrieden sein. Das ist unser Matschtanz. Wir dürfen die Zeit einfach ungenutzt verstreichen lassen. UNGENUTZT! Das klingt krass verboten, ich weiß. Aber wir dürfen!

Wir dürfen nach unserem Matschtanz die dreckigen Stiefel in die Ecke treten, uns mit einer Tafel Schokolade auf die Couch hauen und uns profan unterhalten lassen. Oder einfach ein wenig schlummern. Das machen wir einfach mal solange, bis es sich nicht mehr verboten anfühlt. Das ist nämlich der Zeitpunkt, in dem wir in unsere eigentliche Kraft kommen. Und dann fängt man an, Dinge zu machen, die einem wirklich Freude bereiten. Und die uns ganz nebenbei auch noch gut gelingen.

Versteh mich nicht falsch! Wenn du immer schon eine neue Sprache lernen, den 10-km-Lauf unter 60 min schaffen oder die Leinwände mit Farbe füllen wolltest, die schon seit 2 Jahren zwischen Schrank und Wand stehen, du aber dafür nie die Zeit hattest – dann mach es jetzt!

Aber mach es bitte nicht, nur weil du Angst hast, in dieser Krise nicht produktiv genug gewesen zu sein!

Ich lerne das auch gerade nur ganz langsam.

Dass ich echt enttäuscht sein darf vom aktuellen Zustand. Ich darf traurig sein, dass wir unsere Hochzeit absagen mussten. Ich darf Angst haben, weil mir die meisten meiner Aufträge wegbrechen. Ich darf gebrochenen Herzens den Tod meines Opas beweinen, der unter diesen Umständen gehen musste und dessen Trauerfeier kleiner wird, als er es verdient gehabt hätte. Ich darf geknickt sein, weil die lang ersehnten Reisen ans Meer storniert werden mussten. Ich darf mich schmerzlich nach meiner Familie in der Schweiz und meinen Freunde in anderen Bundesländern sehnen. Ich darf es einfach doof finden, dass die Konzerte, auf die ich mich so gefreut hatte, nicht stattfinden. Ich darf mich anstecken lassen von dieser Ungewissheit. Ich darf mich eingesperrt fühlen. Ich mir Sorgen machen. Und meine Mama vermissen.

Ich darf mir Babble runterladen und es dann nicht nutzen. Bücher kaufen und sie dann nicht lesen. Ich darf laufen gehen und danach Kekse essen. Ich darf sagen: diese Krise kotzt mich an!

Und ich darf mich genauso darüber freuen, wie schön das Wetter ist. Ich darf glücklich darüber sein, dass Eltern mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen (können). Ich darf beeindruckt sein von der Kreativität unserer Gastronomen und Künstler. Ich darf darüber nachdenken, ein Gedichtband herauszubringen und es vielleicht sogar einfach machen – nicht weil ich muss, sondern weil ich das schon immer wollte!

Und du darfst das auch! Fluchen und im nächsten Moment dankbar sein. Motiviert faul sein. Die Nase in die Sonne halten, auch wenn Regen aus deinen Augen tröpfelt.

Das ist ok! Wir stecken hier alle drin. Und alles was wir wollen ist, gesund da wieder rauskommen. Nicht reicher oder dünner, nicht schlauer oder geerdeter. Einfach nur gesund – und vielleicht ein bisschen dankbarer.

4 Gedanken zu “Zeitkonto

  1. Beekay sagt:

    Ja! Du darfst leben.
    So wie Du moechtest.
    So wie Du kannst.
    Ikigai.

    Lass es Dir gut gehen.
    So gut es Dir gehen kann.
    Heute.
    Jetzt.

    “Paradise on earth is to work all day alone in anticipation of an evening in interesting company”
    (Ian McEwan)

    We’re all training our anticipation skills.

    Gefällt 1 Person

  2. Emma denkt. sagt:

    Danke dafür, dass du du bist – mit all den dazugehörigen Facetten und wie auch immer das hier und jetzt gerade aussieht – und eine tröstende, (unter-)stützende, zustimmende, anteilnehmende gedankliche Umarmung von Herzen.

    Gefällt 1 Person

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