Drei Sekunden Glück

„Bist du glücklich?“
fragte sie in die Nacht hinein. Ihr Kopf ruhte auf seinem Arm und sie ließ die Augen über sein Gesicht wandern. Sie kannte fast jeden Fleck, jede winzige Eigenheit, so oft schon hatte sie ihn angesehen. Sie kannte auch das Stirnrunzeln. Diese drei kleinen Falten, die sich wie eine Gebirgskette auftaten, wenn er seine Augenbrauen fragend zusammen zog.

„Ich verstehe die Frage nicht!“ murmelte er, der Schlaf saß schon auf seiner Bettkante.

Von draußen drangen leise Gitarrenklänge ins Zimmer. Ein paar wenige Fetzen Melodie und Stimme trug der laue Frühsommerwind hinein. Gerade genug um sich nicht allein zu fühlen in der Stille, die seine Worte hinterließen.

„Ist doch ganz einfach.“ flüsterte sie „Das fühlt man doch.“

„Mmh. Ich weiß nicht. Dafür muss man Glück doch erst einmal definieren.“

Sie setzte zu einer Antwort an, doch da hatte der Schlaf bereits gewonnen.

„Muss man das?“ Die Frage drehte Runden in ihrem Kopf wie ein Goldfisch im Glas.

Und genau wie Goldfische vergaß diese Frage eben nicht nach drei Sekunden, wer sie war und warum sie da war.

Sie ärgerte sich immer wieder darüber, dass die Behauptung, Goldfische seien vergesslich, aufgestellt wurde, um die unsägliche Haltung in einem Kugelglas zu rechtfertigen. Wer will schon in einem Kugelglas leben.

Sie nicht. Und doch fühlte sie sich manchmal genauso. Eingesperrt in unsichtbare Glaswände. Mit einer ganzen Unendlichkeit an Entdeckerdrang in sich. Mindestens.

Drei Sekunden. Drei Stunden. Tage, Wochen, Monate. Manches vergisst man nie, auch wenn man noch so viele Kreise schwimmt.

„Muss man das?“. Die Frage schwamm blubbernd die nächste Runde. Ein süffisantes Lächeln im Gesicht.

Muss man das? Muss man Glück definieren? Warum? Damit es messbar wird? Damit man auf einer Checkliste etwas abhaken kann, um schlussendlich zum Ergebnis „glücklich“ zu kommen?

– 8 h Schlaf – check
– Morgenstuhl – check
– Milch nicht sauer – check
– Chef auch nicht – check
– Parkplatz vorm Haus gefunden – check
– keine Diskussion mit dem Kind – check
– Bockwurst zum Abendbrot – check

DING DING DING, volle Punktzahl. Glücklich.

Und muss dann jeder eine eigene Checkliste machen? Und ist die dann überhaupt kompatibel mit den 7,x Milliarden anderen auf der Welt? Und was passiert mit den Checklisten der Menschen, die schon fertig sind mit leben? Was, wenn da noch nicht alles abgehakt war? Sind die dann alle unglücklich gestorben?

Und was ist mit Kindern, die von Checklisten keine Ahnung haben? Warum lachen die? Und sind die nicht diejenigen, die wahrscheinlich am ehesten wissen, dass man Glück nicht zwingend immer definieren muss? Sondern das manchmal der Instinkt reicht?

Warum haben Menschen soviel Angst auf die Frage „bist du glücklich?“ mit JA zu antworten? Als wäre es ein Label, das man nie wieder ablegen kann. Wie ein Stirntattoo auf dem lebenslang „happy“ steht. Komme was da wolle. Einmal entschieden. Festgelegt für immer.

Oder als müssten wir ein schlechtes Gewissen haben, glücklich zu sein. Als gehöre es zum guten Ton, immer einen Hauch „aber“ in petto zu haben.

„Ich bin glücklich“ dachte sie für sich.
Ich kann nichts abhaken. Ich kann es nicht definieren.
Aber jetzt, für diesen Moment, jetzt und hier, bin ich glücklich. Ich will nirgends anders sein. Und mit niemand anderem. Ich vermisse nichts und sehne mich nach nichts. Ich will es nicht potenzieren und auch nicht konservieren.

Jetzt, in dieser Sekunde, bin ich glücklich.
Und vielleicht auch noch die nächsten drei.

Dann kam der Schlaf auch zu ihr.