Ein Tag mit Anja und die Realität verliert den Boden unter den Füßen. Genau so hat er sich zugetragen. Ich schwöre:
Wir stapfen durch den dichten Nebel Richtung Gipfel. Man könnte meinen, da ist nichts. Außer wir und diesem wabernden weißen Dickicht. Wäre auch schön, irgendwie. Aus den Augen, aus dem Sinn heißt es. Vielleicht radiert dieser Dunst all die Schwere aus unserem Alltag. Und je weiter wir hinein laufen, desto unwirklicher fühlt sich die Wirklichkeit an.
Und dann, wie aus einer anderen Zeit, zeigt sich der Himmel. Klar und blau. Und in ihm badet die Sonne, als wüsste sie nichts vom grauen Tag, der sich mit den Schwaden zudeckt. Hier oben ist plötzlich alles klar. Eine zuckerwattige Decke liegt auf der Welt.
Hier oben wohnt Großmutter Leichtigkeit und bittet dich zum Tee. „Komm herein, mein Kind. Du musst durchgefroren sein von der Kälte da unten. Ich habe Wolkenkuchen gebacken. Setz dich. Schließ´ die Augen. Die Zeit ist verreist, sie lässt Grüße ausrichten.“
Die Zeit. Sie saß mir recht häufig im Nacken in den letzten Monaten. Ich hoffe sie erholt sich, wo immer sie ist. Aber wie ich sie kenne, lässt sie sich ziemlich schnell gehen, wenn es schön ist. Doch jetzt und hier ist sie nicht spürbar. Sonnenstrahlen fließen durch die Winterbäume hindurch und schmelzen auf unseren geschlossenen Lidern. Zeitlose Wärme. Die wenigen Vögel, die es nicht in den Süden gezogen hat, lassen sich durch uns nicht von ihrer gesungenen Unterhaltung abhalten. Es duftet nach Walderde und ein bisschen nach Freiheit. Mir wird bewusst, wie sehr ich diesen Ort liebe. Und ich glaube, er mag mich auch. Der Moment, in dem man sich in seinem verletzlichsten Zustand gleichsam gespiegelt und gehalten fühlt, ist der, in dem ein Zuhause entsteht. Ich bin Zuhause – und es ist in mir.
„Wirf einen Blick nach rechts“ unterbricht Großmutter Leichtigkeit die friedvolle Stille „siehst du sie?“ Meine Augen folgen ihrem Hinweis und treffen auf eine Gruppe Nadelbaumspitzen, die aus dem Nebel ragen.
Für einen Moment denke ich: Was, wenn diese Bäume nicht auf dem gleichen Boden wachsen, auf dem ich stehe? Was, wenn sie auf ihrer eigenen kleinen Insel in diesem Nebelmeer schwimmschweben? Und wir auf unserer?
Mir huscht eine gewitzte Fallgefühlwelle durch den Bauch. Als würde sich unsere kleine Insel tatsächlich bewegen. Wie käme ich dann wohl auf die Bauminsel?
Schwimmend. Logisch.
Einzig die Nebelschwimmstufe fehlt mir. Die bekommt man erst, wenn man alle Sorgen wie Kleidung ablegen und falten kann. Erst wenn man völlig frei von Grübelpullis und Zermarterhosen ist. Erst wenn auch beide Unruhestiefel von den Füßen gleiten, kann man sich gefahrlos in das wattefarbene Meer stürzen.
Noch hab ich keine Nebelschwimmstufe. Ich bleibe also erst einmal hier, bei Großmutter Leichtigkeit. Wenigstens noch ein paar Sonnenstrahlen lang.
Sie lächelt wissend warm und fragt. „Gehst du mir noch ein paar Kokosraspeln schippen?“
„Oh, ich dachte, das sei Schnee.“ höre ich mich sagen.
„Tja weißt du, am meisten täuscht man sich dann, wenn man den Verstand einsetzt, mein Kind. Und jetzt schnell! Bevor euch die Vögel den Kuchen wegpicken!“