Es ist der 3. Oktober. Der Tag der deutschen Einheit.
Fast 30 Jahre ist es her, dass es eben diese „deutsche Einheit“ nicht gab. Natürlich wurde an eben diesem Tag damals kein Schalter umgelegt. Natürlich ist mir bewusst, dass es auch heute noch viele Unterschiede gibt, dass teils mit zweierlei Maß gemessen wird. Und zwar nicht nur in Sachen Herkunft, sondern auch Geschlecht, Religion und Einstellung.
Aber das ist ein Prozess, den wir alle durchlaufen müssen, noch eine ganze Weile. Und dennoch sollten wir ab und an mal schauen, was wir bereits erreicht haben und nicht immer nur auf das, was fehlt.
Zunächst müssen wir uns bewusst machen – wir, die nach Gleichheit und Gleichberechtigung schreien – dass die Erreichung dessen nur ein Schritt ist auf dem Weg zur Akzeptanz des Individuums. Denn im Grunde wollen wir alle zwar die gleichen Rechte – rein theoretisch – tun uns aber schwer mit den gleichen Pflichten. Weil Rechte uns befreien und Pflichten uns einschränken. Eigentlich wollen wir erst einmal nur das Recht haben, zu wählen, ob wir Uniformität wollen, auf der Basis homogener Bedingungen. Und von dort aus unsere eigene Persönlichkeit entwickeln. Weil es im Leben doch um Vielfalt geht.
Der Satz „wir sind alle gleich“ bewahrt doch eigentlich nur eins: die Vermeidung einer Bewertung. Blendet man das mal aus (keiner ist besser oder schlechter), merken wir: Wir sind eben nicht alle gleich – und das ist großartig.
Ich sitze heute, an eben diesem – ich nennen ihn mal – „Plantag“ der Einheit mit meiner Mutter beim Frühstück in Bayern. Unser Nachbarbundesland.
Noch vor 30 Jahren undenkbar. Wir kommen ins Plaudern, blättern im imaginären Fotoalbum dieser Zeit.
„Wie hätte denn ein Hotelfrühstück zu dieser Zeit ausgesehen?“ frage ich
„Naja, zunächst mal wäre da eine lange Schlange an der Tür. Und eine Gedrängel beim Essen, weil: wenn es alle ist, ist Schluss. Aber wir waren selten in Hotels. Ein paarmal in FDGB-Ferienheimen. Für diese Plätze musstest du dich lange im Voraus bei deinem Betrieb anmelden. Dann wurde alles geprüft und mit Glück wurdest du angenommen.“
„Du musstest dich auf den Urlaub bewerben?!“
„Ja! Natürlich. Und manchmal hast du Jahre auf einen Platz gewartet. Beim Frühstück wurdest du dann in zwei Staffeln eingeteilt. Die Unterkünfte waren oft provisorisch. Einmal haben wir in umgebauten Bauwagen übernachtet. Uns gegenüber war ein Paar aus Dresden einquartiert. Sie sind die ganzen 14 Tage nicht aus ihrem Wagen gekommen.“
Ich muss schmunzeln. „Romantischer Urlaub?“ frage ich verschmitzt.
„Nein. Westfernsehen. In Dresden hat man das damals nicht empfangen. Sie haben den gesamten Urlaub in die Röhre geschaut.“
„Ach stimmt. Das war ja damals verboten“
„Zu dieser Zeit nicht mehr. Aber auch nicht erwünscht, nur geduldet. Verboten war es, als ich noch ein Kind war. Dein Opa wurde eines Tages von der Stasi abgeholt und erst am nächsten Tag wiedergebracht.“
„Was? Warum?!“
„Er hatte auf Arbeit erzählt, dass er etwas im TV gesehen hatte. Das kam allerdings nur auf den verbotenen Frequenzen. Also haben sie ihn verhört. Die haben da genau drauf geachtet. Mein Onkel war Oberstleutnant bei der NVA in Berlin. Der hat immer geschaut, in welche Richtung die Antennen auf den Dächern standen.“
„Und wenn es die falsche Richtung war, dann wurde man überprüft?“
„Ja, mitunter. Du warst gut beraten ganz penibel darauf zu achten, auf welcher Frequenz dein Radio eingestellt ist. Oder was du an Lebensmitteln auf Lager hast. Wir hatten einmal eine Schweizer Delegation auf Arbeit (Anm.: eine Schule), die haben später Schokolade geschickt als Gruß. Mein Chef wollte sie entsorgen, aber ich konnte es nicht. Ich stellte mir die leuchtenden Kinderaugen vor. Also haben wir alle Schokoladen von der Verpackung befreit und sie blank an die Kinder verteilt. Hätte Ärger geben können, aber wir hatten Glück.“
„Unfassbar“, denke ich bei mir, während ich meine Blicke schweifen lasse. Sie bleiben am reichhaltigen Buffet hängen. Und den gut genährten Ruheständlern. Besonders aber an einer Dame, die grellbunt gekleidet ist und zur Feier des Tages einen riesigen Hut trägt, der für jedes Pferderennen mehr als angemessen gewesen wäre.
Ich mag sie. Sie ist anders als die anderen hier. Individuell. Wir haben alle schon so viele Freiheiten. Es liegt an uns, sie zu nutzen.