Das Leben ist eine Gefühlsbibliothek

„Wie geht es dir?“ willst du wissen. Die Frage hängt wie eine einzelne Rauchschwade im Raum und will sich einfach nicht verziehen.

Ich denke eine Weile nach, was ich dir darauf wohl antworten soll. Eine einfache, kurze und doch wahre Antwort gibt es darauf nicht. „Gut“ könnte ich sagen. Wäre aber gelogen – zumindest was einige wichtige Bereiche betrifft. Und irgendwie weiß ich nicht, welchen Bereich du meinst. Meine Arbeit? Meine Gesundheit? Mein Herz?

Und bist du einer der wenigen Menschen, die darauf eine ehrliche Antwort haben wollen oder willst du nur die Stille unterbrechen? Fragst du nur, um gefragt zu haben?

„Alles gut?“ hakst du nach. „Geht“ antworte ich vorsichtig, wie um mit dem großen Zeh die Wassertemperatur zu testen, um zu schauen, ob man einen Sprung wagen kann.
„Na, super!“ entgegnest du mir und fängst sofort an, von dir zu erzählen.

Ich ziehe meinen Zeh zurück. Zu kalt.

„Wie geht es dir?“ ist eine pauschale Frage für Smalltalker, die nach einer pauschalen Antwort verlangt und, scheiße noch eins, die habe ich einfach nicht. „Wie geht es dir?“ ist heute nur noch eine Floskel. Viel zu selten kann man darauf doch antworten mit: „Mensch, toll!“ und Gott sei Dank auch selten mit: „Beschissen!“

Denn das Leben ist eine Gefühlsbibliothek mit vielen Ressorts. In den Regalen „Wissenschaft“ und „Religion“ ist vielleicht gerade alles gut sortiert, die Bücher über Gesundheit („Homöopathie für Hypochonder“, „Laborergebnisse verständlich zerfaselt“ und „Irgendwann sterben wir alle“) sind alle zur Zeit ausgeliehen und der große Bereich hinten rechts, da wo die Liebesromane und Seelenratgeber stehen, da …. FRAG NICHT! Heilloses Durcheinander. Wieder irgendwelche Rowdys, die da gewütet haben. Teenies bestimmt! Die Jugend von heute – keinen Respekt mehr.

Wenn du also die Bibliothekarin am Empfang fragst (die mit dem Dutt, der weißen Bluse mit dem hohen Spitzenkragen und dem strengen Blick, der dich über ihren Brillenrand trifft wie ein unsichtbarer Pfeil): „Alles gut?“ und damit die komplette Bibliothek meinst, dann erwarte keine kurze und wahre Antwort!

Wenn es dich wirklich interessiert – alles – dann gib mir ein Zeichen. Stell‘ eine konkrete Frage, die genau auf die Sparte abzielt, die dich wirklich interessiert.

Gib mir Zeit. Und nimm dir Zeit.

Oft genug schon zog ich meinen Zeh zurück und setzte mich ans Ufer, um den Lagerfeuergeschichten der anderen zu lauschen. Da sitze ich dann, die Arme um meine Beine geschlungen, den Kopf auf meinen Knien. Lauschend. Nickend. Ratgebend.

Nur wenige Menschen haben es bisher geschafft mir das Gefühl zu geben, dass der beherzte Wassersprung lohnt. Dass weder Kälteschock, noch Untiefen warten. Und das, obwohl sie wissen, dass ich manches Chaos in den Bücherregalen bewusst in Kauf genommen habe.

Manchmal ist das nämlich so: obgleich mich mein Verstand (die geduttete und bebrillte Bibliothekarin) von vornherein warnt (wild gestikulierend fast – wieder mit Pfeilblick): „Lass die nicht rein! Das gibt nur wieder Unordnung in der Herzabteilung!“ antwortet mein innerer Hausmeister Mr. Hope – der gutmütige mit dem kleinen Bauchansatz, aus dem er seine Entscheidungen trifft – „Ach, Mrs. Clear, nu seinse man nich so. Die wissens nich besser. Diesma reissense sich bestimmt zusammen. Un is doch schön, das überhaupt noch jemand kommt. Wär doch auch ganz schön öde sonst, nech? Außerdem sacht man doch so: Wenn du mehr hast alsde brauchst, bau längere Tische und nich höhere Zäune!“ Und dann schiebt er sich milde lächelnd die große Brille zurecht und widmet sich wieder dem Tisch, der schon so lang wackelt.

Der, an dem ich so oft schon des Nachts gesessen und unter der grünen Bibliothekenlampe meine Gedanken aufgeschrieben habe. Wieder und wieder. Manchmal mit weichem Duktus die Worte fast gemalt und manchmal in zornig-traurigen Kritzeleien aufs Papier gewettert bis kaum noch ein weißer Fleck zu sehen war.

Mrs. Clear hebt wissend und missbilligend die Augenbraue, schweigt aber.
Mr. Hope kratzt sich gedankenverloren und voller Vertrauen hinterm Ohr und ich sitze mit meinem großen Herz in der Hand da und beobachte die Szenerie.

Einem Herz, das gibt, weil es so viel von etwas hat, dass es fast überläuft: Liebe.
Leise pocht es in meinen Händen. „Hab keine Angst.“ flüstere ich „Auch das schaffen wir!“  Denn ich weiß, ich kann es vor dem Tohuwabohu nicht beschützen, aber ich kann es bestärken.
„Wie geht es dir?“ frage ich leise …
„Geht!“ antwortet es trotzig und schnieft.

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Es ist die alltäglichste Reaktion und gleichzeitig völlig verrückt, dass wir immer so tun, als ginge es uns gut. Als würde uns ein „geht“ reichen. Über die Runden kommen wir damit, und oft genug auch ins Ziel – aber einen Preis gewinnt unser Seelenleben damit nicht.

Und doch: manchmal ist es eben genau der Zustand in dem wir uns befinden (müssen).

Und immerhin: es geht. Es läuft nicht – ok, aber es steht auch nicht still. Auch wenn jeder Schritt, bei dem wir einen Fuß vor den anderen setzen, anstrengend ist: er bringt uns vorwärts.

Und solang wir Menschen an unserer Seite haben, die auf die Frage „Wie geht es dir?“ nicht nur eine ehrliche Antwort ertragen, sondern diese sogar erwarten, können wir froh sein. Denn sie helfen uns, dass unsere Gefühlsbibliothek wenigstens nicht von einem alles verzehrenden Feuer zerstört wird.

Lettering Headerbild: iletterju

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