Entführte Gedanken

Es heißt, es gehört viel Kraft dazu, Gefühle zu zeigen, die ins Lächerliche gezogen werden können.

Manchmal jedoch ist es eher so, dass man gar keine Kraft mehr hat, um sie zu verstecken.

Wenn dich Erinnerungen treffen wie ein Schlag in die Magengrube, bei dem dir die Luft zum Atmen wegbleibt. Ein Schlag, der dich obelixartig in die Vergangenheit katapultiert.

Es gibt einzelne Songs, die das können. Gerüche. Bilder, auf denen mir jemand entgegen lächelt, den ich mal kannte – oft genug ich selbst.

Egal in welcher Situation oder Stimmung ich mich dann gerade befinde, es scheint sich ein Nebel über die Gegenwart zu legen. Die Geräuschkulisse im Jetzt wird zum Hintergrundrauschen, während flashbackige Déjà-vus vor meinem inneren Auge ablaufen wie ein Trailer der Vergangenheit.

Die gezeigten Sequenzen können aus einer Komödie stammen oder einem Drama. Action, Porno, Romanze, Musical – was immer man mit dem Trigger verbindet, der den Affekt auslöst.

Mein Leben gleicht alsdann einem dieser Greif-Automaten, einem Candy-Crabber. Ich sitze mittendrin und plötzlich kommt dieser Krall-Arm und schleppt mich in die Vergangenheit.

Und ich kann nichts dagegen tun.

Heute erst griff mich ein Lied fest um die Taille und entführte mich. Die ersten Akkorde erklingen und es ist, als würde ein Video-Fotoalbum in meinem Herzen geöffnet. Die Seiten blättern einzeln um, zeigen Momente aus einem früheren Leben.

Oft vor allem die schönen. Man heroisiert zu gern, was einst war. Man verblendet die Vergangenheit wie einen gut gesetzten Lidschatten.

Strahlende Gesichter mit dem leisen Nachhall eines Lachens, das man noch im Ohr hat. Gefolgt von einer Nahaufnahme von ineinander verschlungenen Fingern. Gemeinsame Autofahrten und eine Hand vertraut auf des Anderen Bein. Vielsagende Blickwechsel und nichtssagendes, angenehmes Schweigen …

Versunken in diesem Film endet das Lied. Es endet immer. Zwangsläufig. Und so schnell wie die Erinnerung, diese fast reelle Wiederholung kam, geht sie auch wieder.

Verschwindet wie ein Schiff, das längst den Hafen verlassen hat und nur noch als kleiner Punkt am Horizont zu sehen ist.
„Und einer bleibt zurück“ schießt es mir in den Kopf.
Und schießt mir Tränen in die Augen.
Und schießt mir einen Pfeil ins Herz – ein ums andere mal.

Treffer, versenkt.

Wenn dieses Lied beginnt, wenn ich ein Foto sehe, dann bin ich emotional wieder da. Dann ist alles wieder da. Und ich blicke darauf und blicke zurück mit dem Wissen von heute. Man schaut auf die Leinwand und weiß um die Vorgänge hinter den Kulissen.

Und diese Mischung ist – bei all dem Schmelztiegel an romantisierenden Verklärungen – vor allem eins: schmerzlich.

Wenn dieses Lied endet, ich das Foto wieder weglege, bleibt dieser dankbare Schmerz kurz bei mir. Es ist dieser Moment, ähnlich nach einer besonders atmosphärischen Performance eines Songs bei einem Konzert. Der Augenblick zwischen einem Lied-Ende und dem Beginn des Applauses. Dieser kurze stille Zwischenraum, mit der enormen Wirkung – bei dem man den Atem anhält und den Sturm des aufbrandenden Jubels abwartet, damit er einen mit sich reißt.

  • – – –

Wir blättern durch unser Album und manchmal wünschen wir uns diese Zeiten zurück. Und das ist ok. Manchmal jedoch ist dieser Wunsch mehr als nur ein Tagtraum. Manchmal bleiben wir so in der Vergangenheit hängen, dass wir der Gegenwart keine Aufmerksamkeit mehr schenken und damit der Zukunft keine Chance geben.

Stell dir vor, deine Eltern würden sich deine Babyfotos anschauen und sich nur wünschen, du wärst immer so geblieben, oder würdest jetzt wieder so sein. Das geht schlicht nicht und wäre ein Verrat an allem was seither passiert ist und an allem, was du bist. Du bist gereift, gewachsen. Bist gefallen und aufgestanden. Hast deinen Rucksack vollgeladen mit Erfahrung und Geschichten. Guten und schlechten.
Natürlich blicken sie zurück mit einem kurzen und berechtigten „Ach wie schön es damals war!“. Aber sie würden dich im Heute niemals missen wollen. Weil sie stolz sind.

Und genauso sollten wir es mit unserer Vergangenheit halten. Freudig und gern auch wehmütig, aber stolz zurückblicken. Dadurch vielleicht auch Gefühle aktivieren. Aber wir sollten uns niemals an dem Gedanken festhalten, dass alles wieder GENAU SO wird, wie damals.

Nehmen wir eine Beziehung als Beispiel – wenn du zu sehr an dem Wunsch festhältst, immer das verliebte Pärchen vom Anfang zu sein, wirst du sehr wahrscheinlich scheitern. Man lebt miteinander, man erlebt miteinander. Man lacht und streitet und schweigt. Man verletzt und verzeiht sich. Man lädt sich gegenseitig die Rucksäcke voll mit Erfahrung und Geschichten.

Es KANN nie wieder so sein, wie es anfangs war. Es wird kein identisches Gestern geben und kein kongruentes Morgen. An jedem Tag ändert sich eure Geschichte. Alles was du tun kannst ist, im Jetzt zu bleiben und jeden Tag zu fühlen, ob es dich glücklich macht – auch wenn es nicht mehr ist wie zu Beginn.

Jeder Tag an dem man Bleibt ist ein JA zum Menschen an seiner Seite. Aus freien Stücken. An jedem Tag, an dem dieser Mensch bei einem bleibt, hat er es freiwillig getan. Wir sollten viel dankbarer sein.
Liebe ist keine Pflicht. Sie ist ein Geschenk. Jeden Tag aufs Neue.

Und wenn irgendwann der Tag kommt, an dem aus dem Ja ein Nein wird, dann müssen wir das leider hinnehmen. Wir dürfen traurig sein, verzweifelt. Vielleicht sogar wütend und ratlos. Aber dann sollten wir zurückblicken, dankbar sein und nach vorn blicken.

Denn ich habe gelernt, dass Muskeln verkümmern, wenn man eine verletzte Stelle nicht bewegt. Ich habe gelernt, dass man nach einem Scheitern am besten direkt weiter macht, damit die Angst keine Wurzeln schlagen kann.

Das ist es, was stark sein bedeutet. Nicht, nichts zu fühlen, sondern trotz des Schmerzes weiter zu gehen. Manchmal wirken starke Menschen abgeklärt. Als würden sie Erlebnisse nicht so nah an sich heranlassen, als wären sie nicht verletzt.

Die Wahrheit ist aber: sie sind all das. Manchmal mehr noch, als die meisten anderen. Stärke ist keine Kälte. Stärke ist die Eigenschaft, Dinge als gegeben hinzunehmen und gegen die Zerstörung anzukämpfen, die sie in einem auslösen wollen.

Wenn ich alles für einen Menschen gegeben habe und das nicht reicht – dann tut das weh. Natürlich bin ich enttäuscht. Aber ich weiß auch, dass es dann einfach nicht für mich bestimmt war. Wenn ich mich verliebe und mir ein klares JA zu mir wünsche und das nicht kommt – dann ist mein Herz gebrochen. Natürlich bin ich traurig. Aber ich weiß auch, ein unklares JA ist im Grunde ein klares NEIN.

Ja, ich bin seelenwund. Ja, ich sehne mich. Ja, es tut weh. Aber ich muss weitermachen, denn ich weiß, es gibt nur eine andere Option: mich aufzugeben. Und das kommt für mich nicht in Frage.

Nicht jeder, der lächelt ist immer fröhlich. Aber er hat sich entschieden, den Bruch in sich zu schmücken bis er heilt. Oder: damit er heilt.

14 Gedanken zu “Entführte Gedanken

  1. ralf Hirschberg sagt:

    Das sind sehr ehrliche und aufrichtige Worte, die sich in mir auch Wiederspiegeln. Wieviel schnell sich Dinge verändern, da uns der Alltag im Griff hat.
    Es ist schön Ihre Worte zu lesen, da man sich auch hier deutlich wiederfindet und zum Nachdenken kommt.
    Danke!

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  2. midlifereisender sagt:

    Ich kann Deine Gedanken und Gefühle sehr sehr gut nachvollziehen. So gut in Worte fassen wie Du kann ich sie nicht.. Vielen Dank dafür, dass Du so offen bist und ehrlich, berührend und schön über Deine Gedanken und Gefühlswelt schreibst! 🙂

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  3. Lutz Reinhardt sagt:

    Deine Zeilen lesen sich immer wieder gut, sie sind treffend. Das wahre Leben kannst Du so gut beschreiben. Enttäuschungen, die guten Erinnerungen, meine Gedanken pendeln dann immer von der Vergangenheit in die Zukunft. In Dir schlägt ein gutes Herz.
    Alles Gute
    Lutz

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  4. philosophyofthougths sagt:

    Gefühle zu zeigen ist keine Schwäche sondern eine Stärke. Man hilft damit sich und auch anderen, die einen dann besser verstehen können. Ich denke auch, dass das leben weitergehen muss, selbst wenn diese Zwischenfälle passiere. Aber wenn man sich nicht damit zufrieden geben würde, würde man sein gesamtes Leben leiden, weil diese Zwischenfälle ständig passieren. 🙂

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