Wenn ich etwas gut kann, dann mit mir allein sein.
Zumindest, wenn ich beschäftigt bin. Autofahren oder wandern liebe ich. Wenn mein Körper beschäftigt ist, trauen sich die Gedanken aus ihrem Kabuff. Je länger er beschäftigt ist, umso besser.
Heute war er gute 4 Stunden mit Wandern beschäftigt. 12 km. Laut Pulsuhr ein Aufstieg von gut 1000 m – und wieder runter. Die Gedanken kommen also nicht nur raus und schauen ob die Luft rein ist, sie legen sich sogar Handtücher auf die Liegen und halten die Füße ins Wasser – mit einem Cocktail in der Hand.
Und ein Gedanke sagt zum anderen: „Weißt du, ich kann mit dem Wort Bloggerin nicht viel anfangen. Das klingt wie blocken. Dabei lässt man doch eher Dinge durch.“
„Ja“ antwortet der andere und kaut an seinem Strohhalm „Autorin mag ich genauso wenig. Da steckt das Wort Auto drin. Wie in automatisch. Dabei ist sie so frei, wenn sie schreibt.“
Recht haben die Gedanken. Ich konnte mich mit diesen beiden Bezeichnungen nie wirklich identifizieren. Während des Laufens dachte ich … „Erzählerin“. Das trifft´s doch irgendwie. Ich erzähle Geschichten aus meinem Leben und meinem Innenleben. Imaginär sitze ich mit euch am Lagerfeuer und will es nur so authentisch wie möglich rüber bringen. Ich denke nicht darüber nach, ob die Story eine Parabel wird, ob sie rhetorische Mittel bedient oder besonders spannend ist. Oft bin ich von der Entwicklung und dem Ende selbst überrascht. Wie das Lagerfeuer-Gutenacht-Geschichten-Erzähler manchmal eben sind.
Ich kann euch zum Beispiel die Geschichte erzählen, warum ich wandere.
Manchmal fällt man in sein Aquariumbesucher-Dasein zurück. Da bin ich gerade. Das ist ein Zustand, in dem du Emotionen und das Leben an sich zwar wahrnimmst oder siehst – es aber einfach nicht fühlen kannst. Weil zwischen dir und dem bunten Treiben eine dicke Glasscheibe ist.
Manchmal erleben wir Dinge in unserem Leben, auf die wir sehr heftig reagieren. Besonders, wenn wir sehr empfindsam sind.
Tod, Trauer oder Enttäuschung lösen eine enorme Reaktion aus. Man schnappt nach Luft. Die Gedanken rasen. Das Herz schlägt nicht schneller, aber irgendwie stärker. So stark, als wollte es sich nach außen boxen und flüchten. Einfach weg von diesem Körper, in dem gerade alles zu zerbrechen droht, wie bei einem Erdbeben.
Und dann setzt – wie bei einem Schockzustand – eine Art Schutzmechanismus ein. Ich versuche es bildlich zu beschreiben mit einem Netz. So einem aus Metall, das auch an Felsen angebracht wird, um eine Steinabbruch zu verhindern. Dieses Netz legt sich um dein Inneres. Deine Lunge, dein Herz, all deine Organe. Um zu verhindern, dass alles zusammen bricht. Es ist so eng geschnürt, das wirklich nichts passieren kann.
Du bekommst noch Luft. Aber du atmest nicht mehr ganz ein.
Dein Herz schlägt ruhig. Aber es springt nicht mehr.
Dir ist nicht mehr schlecht vor Aufregung.
Du empfindest kein „Zu Tode betrübt“ mehr. Aber auch kein „himmelhochjauchzend“.
All die Gefühle die du hast, fahren eine moderate Mittellinie. Keine Ausschläge mehr. Du lächelst. Du beteiligst dich an Gesprächen. Du machst, was zu machen ist. Aber nichts dringt tiefer als 2 cm in dich ein.
Roger Cicero besang es einst mit „Ich atme ein. Ich atme aus. Setze einen Fuß vor den anderen.“
Das ist es, was du tust. Automatismen abspielen. Um zu überleben.
Und jetzt gibt es drei Möglichkeiten:
- Du lebst ewig mit diesem Netz. Aber glaub mir, noch schlimmer als tiefe negative Gefühle zu empfinden ist, gar nichts zu empfinden.
- Jemand findet dich, bemerkt das Netz und befreit dich Stück für Stück daraus. Das ist immer mit Angst verbunden, weil man sich an das Gefühl vor dem Netz noch gut erinnern kann.
- Oder du trainierst selbst so lange „schönes Leben“ bis dein inneres wieder gefestigt ist und kein Netz mehr braucht.
Das mache ich gerade. Ich trainiere „schönes Leben“ wie einen Muskel. Am Anfang schafft man vielleicht nur wenige Wiederholung und hat dann verdammten Muskelkater. Aber man wird stärker. Und mit der Zeit wächst die Lebensfreude, wie es eben auch Muskeln tun. Und das Beste: sie wächst in dir und du bist nicht von fremder Aufmerksamkeit abhängig.
Wenn man zum ersten Mal mit solch einem „faradayschen Käfig“ konfrontiert ist und raus will, neigt man zu Übertreibungen. Bungee. Fallschirmspringen. Zu schnelles Autofahren. Gefährliche Sportarten. Hauptsache Adrenalin. Hauptsache IRGENDETWAS fühlen. Nur bringt das nichts. Das ist wie eine Chrashdiät plus massivem Training. Kurzfristige Erfolge, die aber nicht lange anhalten.
Ich habe mittlerweile gelernt, wie ich am besten Trainingsreize setze. Deshalb bin ich wandern. Weil ich es liebe, in der Natur zu sein. Ich liebe es, die Waldluft zu riechen, Sonne auf meiner Haut zu spüren und meinen Puls nach oben zu treiben. Und in diesen Momenten ist vielleicht nicht alles gut. Aber es lässt sich akzeptieren.
Das Tessin ist atemberaubend schön. Palmen neben Kastanien. Eidechsen und Eichhörnchen. Japanische Wandergruppen und hikende Senioren. Ich passiere rustikale Siedlungen und Wasserfälle. Verweile in einer kleinen Bergkirche mit antiken Fresquen aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Ich zünde eine Kerze an – wer weiß, vielleicht nützt es was.
Mein Hauptziel ist die tibetische Brücke: ein 2015 gespannte Hängebrücke, mit der man auf 270 m Länge ein Tal in 130 m Höhe überqueren kann.
Mich erschlägt die Symbolkraft. Wenn du ein tiefes Tal zu überqueren hast, dann ist es mit einer Brücke deutlich einfacher. Liebe ist so eine Brücke. Liebe zum Leben. Liebe zu dir selbst. Liebe zu einem Menschen. Am anderen Ende angekommen, betrachte ich die Hängebrücke noch eine Weile. Wieder eine Etappe geschafft. Die Schuhe haben Blasen gerieben, ich bin leicht erschöpft. Aber zufrieden. Und das hilft beim Weiterlaufen.
Und dann passieren solche kleinen magischen Augenblicke: Gerade überlege ich, ob ich vom Weg abgekommen bin, da sehe ich einen Holzstapel mit zwei Kühlgeräten. Einem mit Getränken, einem mit Eis. Daneben eine Vertrauenskasse und zwei „Gästebücher“.
Und die sind voll mit kurzen Notizen glücklich-überraschter, durstiger Menschen oder Naschkatzen. In den unterschiedlichsten Sprachen sind hier Grüße vermerkt. Alle sind voller Dankbarkeit. Am liebsten mochte ich den:
An diesem Ort also waren vor mir schon hunderte von Menschen in diesem Sommer. Und die allermeisten haben glücklich gelächelt und waren dankbar. Und die wenigsten davon haben noch nie Aquariumzeiten erlebt. Warum soll also auch ich mich nicht erfreuen. Ich verwandle mein 2 Franken Stück von 1969 in ein Schokoeis mit Schokoglasur und Schokosplittern. Ein guter Tausch. Am Ende sind wir eben doch alle nur Eisesser.
Jetzt sitze ich hier, in Mayas Rustico, nach vollendeter Tour und nicht, ohne noch einmal meinen Sehnsuchtsort hier im Tessin zu besuchen. Mergoscia. Das noch immer voll geladen ist mit einigen der schönsten Erinnerungen meines Lebens. Erinnerungen an Liebe.
Ich habe Käseravioli mit Gemüsepesto gegessen im Schein der letzten Sonnenstrahlen. Gerade geht wieder die Sonne unter. Und auch der Wein neigt sich dem Ende. Die Abende sind schwerer als die Tage.
Aber ich atme ein. Und atme aus.
Und morgen früh habe ich sicher einen kleinen Glücksmuskelkater.
Hier noch ein paar Eindrücke: