Kintsugimenschen

Winter.
Schnee und ununterbrochene Dauerfrosttage.

Ich als Beldbesitzer mache mir nun mehr Gedanken über die Auswirkungen des Wetters, als ich es damals in der Stadt getan habe. Man sollte meinen, die Erde frostet mal richtig knackig durch, wenn die Temperatur eine Weile nicht mehr über den Gefrierpunkt ansteigt. Man sollte meinen, Schädlinge und Unkraut werden so im Keim zerstört. Aber es ist eben: SCHNEE und Dauerfrost. Schnee schützt den Boden vorm Ausfrieren. Solang also eine geschlossene Schneeschicht auf meinem nacktem Beld liegt, geht der Frost nur bis ca. 10 cm in den Boden.
Ich lerne: auch eine kalte Decke kann wärmen. Es kommt immer auf die Ausgangstemperatur des darunter liegenden an. Ich lerne weiterhin: die Sache mit dem Unkraut ist nicht durch. Freu dich aufs Frühjahr! Nicht.

Was für den Boden nicht ganz ausreicht, verwandelt Wasser umso schneller. Aus flüssig wird fest. Das Element erstarrt, fängt so Momentaufnahmen ein. Kleine Luftblasen bekommen ein winziges Stück Unendlichkeit, Herbstblätterfarbe wird gespeichert, eingefangene Stille wartet auf den Frühling.

Noch etwas, dass ich in der Stadt nicht getan habe: Morgens 9 Uhr warm einpacken und 5 Minuten laufen bis zu eben beschriebener Kulisse.

Die Eisteiche.

Ihren klangvollen Namen haben sie, da sie noch bis in die 50-er Jahre im Winter zur Eisgewinnung genutzt wurden. Nicht Schoko oder Vanille – so schlaraffenlandig das auch wäre – sondern um z.B.  Fleisch- und Wurstwaren zu kühlen. „Zu Zeiten, als es noch keine elektrischen Kühlschränke gab, brach man im Winter die Eisschollen und brachte sie in den riesigen Keller der Brauerei. Dort wurde es dann von den Fleischereien geholt, um Fleisch- und Wurstwaren zu kühlen.“ (vgl. VG Bad Tennstedt)

Gelegen im Landschaftsschutzgebiet der Bruchwiesen (manchmal fühle ich mich wirklich wie ein Hobbit im Auenland hier draußen!), werden sie gespeist von einer kleinen Quelle und von einem Angelsportverein als Pachtgewässer gehegt und gepflegt.

Da stehe ich nun, an einem Samstagmorgen und schaue B. dabei zu, wie er über Wasser geht. Gefrorenes zwar, dennoch beeindruckt es mich ein wenig. Ich ziere mich.
Mir kommt die Quintessenz des letzten Kinofilms („The Great Wall“) in den Sinn: Xìnrèn. Es bedeutet: Vertrauen. Wahrer Reichtum liegt im Vertrauen in eine gemeinsame Sache. Also vertraue ich. Und gehe neue Wege.


Zum einen, weil ich mich nicht bewusst daran erinnern kann, jemals einen zugefrorenen Teich betreten zu haben. Zum anderen, weil wir nun an Stellen wandeln, zu denen wir ohne das Eis nicht gelangen würden.
Es ist fest, es trägt uns. Es trägt meine Gedanken, mein Herz. Ich bin voller Vorsicht und Demut. Wir gehen langsam. Wir schweigen.

Dann entdecken wir einen kleinen Sprung im Eis. Wir sind schon nah am Rand, dennoch springt auch mein Herz.
Und doch ist trotz dieses Risses die Eisdecke sehr belastbar, weil sie dick genug ist. Weil die Basis stimmt. Genau dieser Defekt hat diesen Morgen besonders in meinen Kopf gebrannt. Diese Imperfektion im Eis. Es lässt mich an all die Menschen denken, die mir in den letzten Tagen geschrieben haben, als Reaktion auf den letzten Text (#beyourownhero2017).

Soviele stille Helden.
Soviele Risse.
Soviele Brüche.
Soviel Stärke.
Soviel Schönheit.

Kintsugimenschen.

Wir kommen als kleine Kunstwerke auf die Welt. Als leere Vasen, die gefüllt werden wollen. Und manchmal wird es plötzlich kalt. Eiskalt. Und die Kälte lässt etwas in uns zerbrechen. Überbeansprucht vom Schicksal.
Es ist unsere Entscheidung, ob wir ein Scherbenhaufen bleiben oder ein Kintsugimensch sein wollen. Du fragst dich sicher, was ich mit dieser Bezeichnung meine:

Die japanische Kultur kennt eine sehr alte Handwerkstechnik, in der Brüche und Risse in Vasen oder Schüsseln repariert werden – und zwar beispielsweise mit Lacken, die mit Goldstaub versetzt werden. Somit werden die Brüche nicht kaschiert, sondern hervorgehoben. Sie machen die einst kaputte Schale zu einem einzigartigem Objekt.

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Kintsugi: The Art of Broken Piecesby Christopher Jobson

Kintsugimenschen finden Dinge, Themen oder Menschen in ihrem Leben, durch die sie repariert werden. Die Narben und Bruchstellen bleiben sichtbar, weil sie Teil ihrer Geschichte sind. Aber genau diese Geschichte macht sie so besonders.

Ihre stillen Helden. Ihr Kintsugimenschen. Ihr seid die Reflexionen, die in der Sonne verheißungsvoll glitzern. Haltet durch. Der Frühling naht.

 

 

 

4 Gedanken zu “Kintsugimenschen

      1. Simone Hartung sagt:

        Du gibst mir so viel kraft und zuversicht. Und ja die Natur ist einzigartig, auch sie gibt mir jeden tag so viel kraft. Man muss nur hinausgehen und die schönen Dinge sehen und in sich aufnehmen.

        Gefällt 1 Person

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