Die Nadel im Neuhaufen

Wie ihr ja sicher wisst, haben Frauen eine ganz geschickte Methode, ihr Revier zu markieren.
Statt (wie Männer) einfach überall zu pupsen, lassen sie Haarnadeln an allen erdenklichen Orten liegen. Wohnzimmertische, Nachtschränkchen, Kühlschrank … auch in deinem Auto hast du sicher schon welche gefunden.
Meine lagen bereits nach den ersten paar Tagen bei B., der es so schön als „Spuren hinterlassen“ beschrieb. Damals hat er sich noch gefreut, jetzt fragt er sich vermutlich, wie viele hundert Euro ich wohl bereits für Haarnadeln ausgegeben haben muss.

Dasselbe denke ich auch oft. Denn sie liegen zwar überall herum, haben aber die Eigenschaft, sich unsichtbar zu machen, wenn man sie gerade dringend braucht. Zum Beispiel, wenn man gerade DIE perfekte Frisur erschaffen hat – gehalten von einer verkrampften Hand mit dem Arm über Kopf. Gerade dann sind sie spurlos verschwunden. Ich vermute, sie beobachten mich dann aus ihrem Versteck und lachen sich eins. Zusammen mit meinen Haargummis.
Das tut weh und lässt verzweifeln. Deshalb kaufe ich immer wieder neue 50-er Packs in der Drogerie meines Vertrauens und deshalb sind sie alle auch so austauschbar und ohne Wiedererkennungswert.
Fast alle.

Es gibt diese eine Haarnadel, die mir immer wieder in die Hände fällt. Sie ist schief und der Lack schon ein wenig angekratzt. Sie hat Fehler, aber sie hält zu mir. Als ich sie letztens auf dem Stuhl am Esstisch fand, habe ich mich ehrlich gefreut und dachte bei mir: hättest du nicht diesen kleinen Makel, ich hätte dich nicht erkannt. Du wärst so austauschbar gewesen wie jede andere …

Und genauso ist es doch auch mit uns Menschen. Das was dich unterscheidet von den anderen – und wenn es ein kleiner Makel ist – macht dich so unverwechselbar und liebenswert. Dein Sprachfehler ist das bezauberndste Lispeln auf der Welt. Dein Schielen ohne Brille – weil du so kurzsichtig bist – bringt mich jedes Mal zum Lächeln. Deine Größe, die andere dich unterschätzen lässt, birgt Potential für überraschungen. Deine große Nase gibt dir Profil. Deine Imperfektion macht dich nachsichtig für die Unvollkommenheit anderer. Deine „Fehler“ machen dich echt.

Letztens habe ich auf dem Weg zur Arbeit eine entschlossene Nordic-Walkerin gesehen. Sie hatte einen bodenlangen, rosafarbenen Mantel an.
Wie es mal überhaupt nicht zum Sport gepasst hat …
Wie es ihr mal völlig egal war …
Wie sie mir im Gedächnis geblieben ist …

Vergiss nie: Wegen der Stärken wirst du begehrt. Aber wegen deiner Schwächen wirst du geliebt.

So, wie das kleine Goldhelm-Café, in dem ich mich so wohl fühle. Jeder Stuhl ist alt, jeder ist unterschiedlich und trotzdem bilden sie zusammen eine Einheit. Nur so entsteht diese heimelige Atmosphäre. Nur so kann ich dort in meiner Imperfektion sitzen und die weltbeste heiße Schokolade auf der ganzen Welt trinken – nein falsch: löffeln.

Auch wenn ich das im Alltag schnell vergesse, erinnert mich so eine kleine Nadel daran. Daran, dass es ok ist, nicht alles fehlerfrei zu machen. Daran, wie unwichtig es tatsächlich ist, alles perfektionieren zu wollen. Weil es im Grunde eins ist: Jammern auf hohem Niveau.

Wie perfekt ist unser Leben nicht schon: Wir können zum Sonntagabend friedlich spazieren gehen, vorbei an beleuchteten Fassaden, die uns auf Weihnachten einstimmen. Wir können unseren Kindern beim Einschlafen zusehen. Wir können mit Freunden Zeit verbringen, gemeinsam in Erinnerungen schwelgen. Wir können den Kühlschrank aufmachen und minutenlang davorstehen, weil wir uns nicht entscheiden können. Wir können uns auf der Couch einkuscheln, wenn es draußen nasskalter November ist. Wir können fast alles und wir müssen fast nichts.

Gerade im Hinblick auf die aktuelle Weltlage: Lasst uns das feiern.

4 Gedanken zu “Die Nadel im Neuhaufen

  1. Katja sagt:

    Liebes Stattstadtmädchen,
    du hast eine ganz wunderbare Art, die Welt zu sehen und dich mitzuteilen. Meine kleine heile Welt ist gerade zerbrochen. Danke an dich, denn in dieser schweren Zeit finde ich Trost und Zuversicht in deinen Blogs, z.B. auch in „Liebesbrief ans Leben“. Du hast so recht, es hält immer wieder Überraschungen für uns bereit. Und nach grauen Tagen kommen wahrscheinlich auch wieder bunte. Man muss es nur zulassen.

    Herzliche Grüße
    Katja

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    1. Stattstadtmädchen sagt:

      Liebe Katja

      Danke für deine Worte! Ja, manchmal zerbrechen Dinge. Das ist besonders schmerzhaft, wenn wir sie geliebt und geschätzt haben wie wertvolle Vasen.

      Aber auch Eierschalen zerbrechen und oft entsteht neues Leben daraus. Ich verspreche, es kommen wieder bunte Zeiten, die dunklen muss man dafür an- und wahrnehmen.

      Ich wünsche dir von Herzen alles Gute ♥️

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